Dieses Stück Weltliteratur hat endlich eine Heimat im Düsseldorfer Jungen Schauspiel gefunden: „Pinocchio“. Es stammt von dem italienischen Schriftsteller Carlo Collodi und erschien vor über 140 Jahren als Fortsetzungsgeschichte für die Kinderzeitschrift „Giornale per i bambini“. Auf der Münsterstraße plumpst ein altes Exemplar dieser Zeitung vom Himmel, vor den Augen der Zuschauer und der sieben Figuren, die von nun an das Geschehen auf der Bühne bestimmen werden.
Da ist zunächst einmal der sehr arme Schreiner Geppetto. Er hat ein schönes Stück Holz gefunden und möchte daraus eine Puppe schnitzen. Um ihn herum stehen, sitzen oder liegen der Fuchs, die Katze und der Kerzendocht. Auch der Feuerfresser ist dabei, ebenso wie eine wunderschöne Fee. Vor allem aber schwirrt eine ziemlich aufdringliche Grille durch den Raum, riesengroß, mit langen Fühlern und noch längeren Beinen, die sie wie Krücken vor sich herschiebt. Die Grille wird das erste Opfer des kleinen Jungen, sobald der aus dem Holzscheit zum Leben erwacht.
Wie jedes größere Theater hat auch das Düsseldorfer Schauspiel eine eigene Schreinerei. Für „Pinocchio“ hat sie unter der Leitung von Stefan Heinen eine wahre Meisterleistung vollbracht. Übergroße hölzerne Rahmen bestimmen den Fortgang der Handlung. Sie werden aus- und zugeklappt, verschoben, in die Schräge gekippt oder flachgelegt. Eine wunderbare Anspielung auf die Handwerkskunst von Geppetto. Plastikfrei und nachhaltig.
Wie gesagt, Pinocchio beginnt sein Leben gleich mit einem Mord. Die als lästig abgeklatschte Grille ist aber nicht wirklich tot. In der Gestalt von Leon Schamlott wird sie dem Holzknaben weiterhin lästig bleiben, als kluge Ratgeberin nämlich, auf die Pinocchio nie hört. Sehr zu seinem Nachteil, denn auf seinem jungen Lebensweg biegt er störrisch immer an der falschen Ecke ab. Er tut dies, weil ihm die guten Ratschläge zu sehr nach Erwachsenen klingen. Zu sehr nach den für ein ordentliches Leben gebotenen Einschränkungen kindlicher Freiheit.
In der Regie von Frank Panhans und der Textbearbeitung von Kirstin Hess findet der Düsseldorfer „Pinocchio“ eine Direktheit für Kinderherzen, die nur das Theater erfüllen kann. Auch wenn Walt Disneys Zeichentrickfilm von 1940 lange das Bild dieser Figur prägte: Der als Realfim mit Computeranimation angelegte Nachfolger von 2022 hinterließ bei Publikum und Kritik nur einen schwachen Eindruck. Nicht einmal Tom Hanks als Schreiner Geppetto konnte da etwas reißen.
An der Münsterstraße wird Geppetto von Eva Maria Schindele gespielt. Wie die weiteren Mitglieder des siebenköpfigen Ensembles übernimmt die Schauspielerin mehrere Rollen. Eine Ausnahme bildet natürlich die Titelfigur. Ayla Pechtl ist ein wahrer Irrwisch, ein meist gutgelaunter Kobold, dem selbst die schrecklichsten Abenteuer nicht wirklich etwas anhaben können. Jammern ist nicht ihr Ding, ein glockenhelles Lachen dient ihr als Waffe gegen frühe Lebenskrisen. Sogar im Land der Einfaltspinsel, wohin sie von der bösen Katze (Felix Werner Tutschkau) und dem noch böseren Fuchs (Hannah Joe Huberty) gelockt wurde.
Es ist aber beileibe nicht so, dass Pinocchio nur als von bösen Mächten Getriebener agiert. Man muss es einfach aussprechen: Dieser Bengel folgt ausschließlich seinem eigenen Vergnügen. Gerade hat Vater Geppetto sein letztes Hemd hingegeben, damit der Junge eine Lernfibel für die Schule kaufen kann. Da kommt ein Puppenspieler um die Ecke, und schon wird das neue Buch gegen eine Eintrittskarte getauscht.
Pinocchios Reise ist dann geprägt von einer Reihe harte Konsequenzen, die ihn ins Gefängnis bringen und schließlich zur Verwandlung in einen Esel führen. Erst viel später, im Magen eines asthmatischen Haifischs, verwandelt sich die störrische Holzpuppe in einen echten Jungen und trifft ihren Vater wieder.
Bei diesem Spiel wird viel gestorben, zumindest vorübergehend. Zur Freude des jungen Publikums kommt dann ein großer Karren auf die Bühne, bewegt von weißen Kaninchen. Sie räumen die Leichen weg und bringen einige von ihnen wieder lebendig zurück. So ist das eben im Wunderland, das weiß man seit Lewis Carroll. Große Freude machte den Kindern bei der Premiere auch Jonathan Gyles als Feuerfresser und noch mehr als schöne Fee. Die herrlichen Kostüme hierfür stammen aus der Werkstatt des Bühnenbildners Jan A. Schroeder.
Und die Nase? An die denkt doch jeder, wenn er den Namen Pinocchio hört. Wie man weiß, wächst sie vor allem, wenn der Holzjunge es mit der Wahrheit nicht so genau nimmt. An der Münsterstraße hat man der Versuchung widerstanden, aus dem ikonischen Riechorgan ein besonderes Spektakel zu machen. Wie in Collodis Buch verunziert sie nur ein einziges Mal Ayla Pechtls junges Gesicht.
Ist „Pinocchio“ eine Art Coming-of-Age für Kinder? „Unter allem auf der Welt gibt’s nur eins, das wirklich nach meinem Geschmack ist: Essen, trinken, schlafen, mich vergnügen vom Morgen bis zum Abend!“, sagt Pinocchio zur Grille. Da hätte man doch ein Gesprächsthema für zu Hause, nach dem Besuch dieser erlebnisreichen Theaterstunden.