Lieferengpässe in Apotheken „Sieh zu, dass du Medikamente hast“

Düsseldorf · Antibiotika, Augentropfen, Fiebersaft – seit Monaten sind die Arzneimittel knapp. Um für den Winter vorbereitet zu sein, bestellt die Regina-Apotheke darum dreifache Mengen und Rohstoffe, um Medikamente selbst herzustellen.

In der Regina-Apotheke will Andrea Malcher dafür sorgen, dass die Schubladen und das Lager vor dem Winter gut gefüllt sind.

Foto: Anne Orthen (orth)

Es sind manchmal nur wenige Sekunden, die über Wochen in der Regina-Apotheke entscheiden. Die Frau auf der anderen Seite des Tresens hat ein Rezept, sie braucht Cholesterin- und Blutdrucksenker. Die Apothekerin gibt die Namen der Medikamente in das System ein und sieht: Die Mittel sind diesmal noch auf Lager, aber sie muss nachbestellen. Doch als sie ihrer Kollegin im Hinterraum das Rezept zeigt, ist es schon zu spät. Das Bestellsystem meldet „NL“ – nicht lieferbar. Eine andere Apotheke war schneller, eine Schublade bleibt leer.

In NRW sind Tag für Tag rund 300 000 Patienten von Lieferengpässen bei Arzneimitteln betroffen, meldet der Apothekerverband Nordrhein in Düsseldorf. Antibiotika und Nasenspray, Asthma- und Durchfallmittel – die Liste ist lang und wird immer länger. Mehr als 500 Medikamente stehen derzeit darauf, vor fünf Jahren waren es nicht einmal halb so viele – der Verband spricht von einem Anstieg von 150 Prozent. Andrea Malcher und Ioannis Hatzianastassiou von der Regina-Apotheke machen es anschaulich: Sie haben die Tabelle in kleiner Schrift ausgedruckt, es sind 43 Seiten.

So schlimm wie im vergangenen Winter, sagen sie, war es zuvor noch nie. Die Apotheke liegt in einer Nebenstraße in Lichtenbroich, neben einem Edeka-Markt und vier Arztpraxen, darunter ein Allgemeinmediziner und eine Kinderärztin, gegenüber Einfamilienhäuser mit Backsteinfassade. In die Ortsteil-Apotheke am Stadtrand von Düsseldorf verirrten sich im letzten Winter Mütter und Väter aus anderen Stadtteilen, die auf der Suche nach Fiebersaft bereits fünf andere Pharmazien abgeklappert hatten. Sie trauten sich kaum, zu fragen, ob sie noch eine Packung für ihr zweites Kind bekommen könnten, vorsorglich. Es kamen sogar Anrufe aus anderen Städten – ein Kölner arbeitete sich immer weiter nördlich, bis er in Lichtenbroich landete. Und immer wieder mussten die Apotheker Menschen abweisen, weil sie einfach nicht an die Medikamente kamen.

„Wir haben versucht, vom letzten Jahr zu lernen“, sagt Ioannis Hatzianastassiou. „Wir bestellen jetzt das Dreifache vor. Wenn wir sehen, dass etwas lieferbar ist, ordern wir 15 statt fünf Packungen.“ Auch wenn manchmal nur eine Packung kommt: Die Schubladen sind gut gefüllt, zumindest mit den lieferbaren Mitteln. Hatzianastassiou öffnet die Tür zum zweiten Lager, einem kleinen Raum mit hohen Regalen, in denen sich Amoxicillin und Hustenlöser stapeln. „Wir sagen uns immer: Sieh zu, dass du Medikamente hast.“ Das Lager ist voll, die Saison der Erkältungen und Grippeinfektionen beginnt meist im November. Andrea Malcher nennt es „die Ruhe vor dem Sturm“.

Aktuell ist jeden Tag eines von zehn Medikamenten nicht lieferbar, schätzen die Apotheker. Im Winter werde es etwa jedes Dritte sein. Dann beginnt das große Improvisieren. Sie rufen Großhändler und Herstellerfirmen an, kontaktieren die Ärzte und besprechen alternative Mittel und Dosierungen. Manche Medikamente dürfen sie gar nicht ausgeben, weil sie zu teuer sind. Das Problem: Das dauert. Liegt ein Medikament in der Schublade bereit, brauchen die Apotheker nur wenige Minuten, um einen Kunden zu bedienen. Bei Lieferengpässen sind es manchmal Stunden. „Rufen Sie während einer Grippewelle mal eine Praxis an“, sagt Hatzianastassiou und nimmt einen Schluck Kaffee aus seiner „Stressalarm“-Tasse. Auf der steht: „Zum Entspannen austrinken.“

Für den Mehraufwand ist gesetzlich ein Ausgleich vorgesehen: 50 Cent pro Vorgang. „Eine Beleidigung für uns als Apothekerinnen und Apotheker und unsere Teams“, sagt Thomas Preis vom Apothekerverband Nordrhein. Berechnungen der Bundesvereinigung Deutscher Apothekerverbände zufolge sei der Schaden viel höher: 21 Euro pro Vorgang – das mache 425 Millionen Euro Verlust im Jahr für die Branche.

„Immer mehr Medikamente werden per Sonderzulassung aus dem Ausland in hektischer Weise importiert und zugelassen“, sagt Preis. Ohne Rücksicht auf die Sicherheit. Einige ganz ohne Beipackzettel, andere mit Beilagen auf anderen Sprachen oder in KI-Übersetzung. „Übrigens nur, um den Rabattvertrag einer deutschen Krankenkasse bedienen zu können.“

Kapseln für herzkranke Kinder entstehen in Eigenproduktion

In der Not hatten viele Apotheken im vergangenen Winter damit begonnen, Arzneimittel selbst herzustellen. Auch in der Regina-Apotheke gibt es eine Rezeptur, in der normalerweise spezielle Kapseln für herzkranke Kinder entstehen, im Notfall aber auch Fundamentales wie Ibuprofen. Doch der Aufwand dafür ist eigentlich viel zu hoch. „Wir dürfen keine größeren Mengen herstellen, sondern nur auf Rezept“, sagt Andrea Malcher. „Und wir sind letztes Jahr personell auf dem Zahnfleisch gegangen. Dann kann ich nicht einfach eine Person zwei Tage lang ins Labor schicken.“

Zumal selbst hergestellte Medikamente für die Pharmazeuten ein höheres Risiko bergen. Die Kosten würden vermehrt von den Krankenkassen nicht übernommen, meist wegen Formfehlern, sagt Malcher. Einmal fehlte etwa der Vorname des verschreibenden Hausarztes.

Dennoch hat das Team die Rohstoffe für Ibuprofen schon bestellt. Sie wollen vorbereitet sein, wenn der Sturm beginnt, der die Schubladen leer fegt und Kranke aus ganz Düsseldorf und darüber hinaus nach Lichtenbroich weht.