Menschen in Düsseldorf Als Andrey Semernya seinen russischen Pass zerschnitt
Düsseldorf · Mehrfach hat Andrey Semernya an Anti-Putin-Demos teilgenommen. In Düsseldorf betreut er Kinder als Au-pair.
Am Tag, als Wladimir Putin den Angriffskrieg gegen die Ukraine begann, hat Andrey Semernya seinen russischen Identitätsnachweis zerschnitten und damit ungültig gemacht. „Das war vielleicht etwas impulsiv“, sagt der 21-Jährige. „Aber ich war zutiefst geschockt, dass mein Heimatland unter Putins Führung ein eigenständiges Land überfällt und das Völkerrecht bricht. Es fühlte sich an, als würde mein Herz in 100 000 Teile zerspringen.“ Seitdem war er viermal auf einer Pro-Ukraine-Demonstration in Düsseldorf und hielt tapfer sein selbstgemachtes Transparent „Ich bin Russe und gegen den Krieg“ in die Höhe. Für die Kriegsverbrechen im Kiewer Vorort Butscha fehlen ihm die Worte. „Das war zu viel“, stellt er fest. „Ich konnte das nicht ertragen und habe alle Info-Kanäle darüber abgestellt.“
Seit elf Monaten betreut Semernya die Kinder einer Familie im Linksrheinischen als Au-pair. Geboren und aufgewachsen ist er in Putins Geburtsstadt St. Petersburg. Semernya kennt sein Heimatland nicht ohne den 69-jährigen Autokraten an der Spitzes. Und doch verfing beim jungen Russen die propagandistische Meinungsmache der Staatsführung nicht. „Ich bin Unterstützer von Kreml-Kritiker Alexej Nawalny“, sagt Semernya. „Ich habe in St. Petersburg und Russland mehrfach gegen Putin demonstriert und bin deswegen zweimal verhaftet worden.“ Er habe viele Nawalny-Studien über die Korruptionsstruktur in Russland gelesen, sein politisches Bewusstsein sei durch die Literatur internationale Zeitungen wie „El Pais“ und Sendungen von CNN geprägt und er habe daraufhin ein enormes Ungerechtigkeitsgefühl entwickelt. „Ich habe mich gefragt: Warum lassen wir das zu? Warum werden korrupte Leute nicht ins Gefängnis geschickt?“, sagt er.
Spätestens, als er selbst offen zur Korruption aufgefordert wurde, war für ihn klar, seine Protesthaltung auf die russischen Straßen zu bringen. „Ich wollte in St. Petersburg eine Sprachschule eröffnen, und man verweigerte mir die Genehmigung, weil die polizeiliche Kontrolle negativ ausfiel“, erzählt Semernya. „Oder ich sollte 100 000 Rubel zahlen.“ Umgerechnet knapp 1500 Euro.
In seiner Heimat war er nicht mehr glücklich, so entstand der Entschluss, irgendwo in Europa Politikwissenschaften zu studieren, um den Kreml vom Ausland aus angreifen zu können. Freunde aus Berlin und München empfahlen ihm Deutschland, weil er Grundkenntnisse der Sprache bereits besaß. Um aber studieren zu können, muss er sein Deutsch noch verbessern. Da kam ein Au-pair-Programm, das ihm anderthalb Jahre Aufenthalt in Deutschland ermöglichte, wie gerufen. Inzwischen haben sich seine Pläne geändert. Jetzt will er ein FSJ (Freiwilliges Soziales Jahr) machen und anschließend Soziale Arbeit studieren.
Von seinen politischen Überzeugung hat er sich aber nicht abbringen lassen. Genauso wie viele Russen auch, sagt er: „Ich glaube nicht, dass 80 Prozent meiner Landsleute den Ukraine-Krieg gutheißen, wie es Meinungsumfragen aussagen. Die Zahlen mögen stimmen, aber wenn in einem autokratisch-repressiv geführten Land jemand bei Ihnen mit einer unbekannten Nummer anruft und behauptet, er sei von einem Meinungsforschungsinstitut, dann sagen Sie doch auch, was man hören will. Das muss aber nicht die wirkliche Meinung sein“, sagt Semernya.
Er kennt jedenfalls in seinem Heimatland niemanden, der vorbehaltlos der sogenannten „militärischen Sonderoperation“ zustimmen würde. „Besonders im russischen Westen, in den Gebieten, die an die Ukraine grenzen, ist das auch unvorstellbar. Dort haben viele Russen auch verwandtschaftliche Beziehungen zu Ukrainern und wissen, dass es keine Nazis sind“, sagt Semernya. Auch er hat Familie in der Ukraine. „Mein Name kommt auch aus der Ukraine.“ Für den russischen Diktator findet er klare Worte. „Putin ist ein Eiterpickel auf dem Arsch der Welt.“