Stadt-Teilchen Das triste Dasein der Bolkerstraßen-Bäume — Veteranen einer verlorenen Schlacht

Wiedergeburt als Baum? Nun ja. Da kommt es ganz auf den Standort an. Denn manche Bäume wachsen in der Hölle.

Foto: Sergej Lepke

Düsseldorf. Manche Menschen möchten ja gerne wiedergeboren werden. Sie stellen sich vor, wie sie nach ihrem Ableben auferstehen als wunderschöne Blume oder als farbenprächtiger Falter. Ihre Fantasien sind meist geprägt von großem Optimismus. Sie meinen, es komme da etwas, das ihr bisheriges irdisches Sein an Prächtigkeit locker in den Schatten stellt.

Ich für meine Person bin mir da nicht ganz so sicher. Ich beneide natürlich die frohgemuten Seelen, lebe aber doch schon länger mit der Weisheit, dass Optimismus oft nur ein Mangel an Information ist. Zu denken gegeben hat mir in dieser Hinsicht ein Januar-Besuch in der Bolkerstraße. Jene Straße, in der abends und vor allem am Wochenende der organisierte Frohsinn tobt, in der Menschen mit weniger als zwei Promille im Blut fehl am Platze sind, wo es manchmal gefährlich werden kann.

Alteingesessene Düsseldorfer haben die Bolkerstraße längst aufgegeben. Sie tauchen dort nicht mehr auf, erst recht nicht am Wochenende, es sei denn, sie haben Spaß am Exzess und schauen gerne, wie sich Menschen enthemmen und dabei ungefragt auch arglose Passanten miteinbeziehen. Junggesellenabschiede sind da in all ihrer Lästigkeit noch die geringste Belästigung. Mir hat vor geraumer Zeit in der Bolkerstraße mal jemand direkt vor die Füße gekotzt. Ja, ich sage gekotzt und nicht erbrochen, weil ich finde, dass zu einem Ereignis das angemessene Wort gehört. Es muss beim Lesen oder Aussprechen genau den Abscheu erzeugen, der in der Situation gegenwärtig wurde.

Kurzum, die Bolkerstraße ist die Hölle, und die Hölle liegt mitten in Düsseldorf. Natürlich weiß ich, dass es Menschen gibt, die das anders sehen. In der Regel haben solche Menschen wirtschaftliche Interessen. Meist verkaufen sie Alkohol und verdienen an den Auswüchsen. Können sie machen, aber sie sollen bitte nicht schönreden, was nicht schönzureden ist.

Um keine Missverständnisse aufkommen zu lassen: Ich liebe die Düsseldorfer Altstadt. Ich mag auch die Bolkerstraße. Wie viele Stunden meiner Jugend habe ich im Weißen Bären, als er noch an der alten Stelle wohnte, verbracht und dort knalllaute Musik von knallharten Bands gehört. Ich war schon damals einer der wenigen Nüchternen in der Kneipe, weil ich mir als 16-Jähriger selten mehr als ein Alt leisten konnte und immer auf der Flucht war vor dem umsatzgierigen Kellner. Aber ich habe tolle Musik erlebt, und deshalb gehört der Weiße Bär zu meiner musikalischen Sozialisationsgeschichte.

Daran muss ich denken, wenn ich die Bolkerstraße besuche. Ich erledige das immer dann, wenn die Hölle gerade kaltgestellt ist, also tagsüber. Am liebsten bin ich am Vormittag unterwegs und prüfe das Bücherangebot im Heine-Haus. Ich schlendere dann und schaue mir an, was all die Menschen erledigen, die zur frühen Zeit die Maschinen der Bolker Hölle ölen. Ich gehe dann auch am Lokal vorbei, wo früher der Weiße Bär wohnte, und jedes Mal bin ich dann wieder der kleine Junge mit unglaublichem Musikhunger. Dann schaue ich nochmal nach, wo früher der „Dä Spiegel“ jeden Abend ein angenehmes Gedränge durchaus gebildeter Menschen erzeugte, wo man sich gerne mit den anderen mischte, in der Hoffnung, es möge beim Vorbeidrängeln ein wenig von ihrem Intellekt abfärben.

Bei solch einer Inspektionsrunde am Morgen fiel mir kürzlich das mit der Wiedergeburt ein. Anlass des Gedankens war der Anblick der trostlosen Botanik auf der Bolkerstraße. Ich sah, was die Straße an Pflanzen vorhält und fragte mich, wie das wohl wäre, würde ich als Baum auf der Bolkerstraße wiedergeboren. Ehrlich gesagt, es wäre fürchterlich. Ich wäre einer von neun Bäumen, deren jämmerliches Wesen viel erzählt von dem, was sie so tagein, tagaus erleben müssen. Was haben diese Bäume nicht schon alles mitansehen müssen? Sie sind offenbar aus gutem Grund so mickrig geraten, so windschief, so schmuddelig. Sie müssen jede Nacht durch die Hölle.

Das wird besonders deutlich an einem tristgrauen Januarmorgen, wenn keine Blätter da sind, die wenigstens ein bisschen Pracht vortäuschen können. Im Prinzip wirken die Bolker-Bäume wie Veteranen einer großen Schlacht. Einer verlorenen Schlacht. Einige haben es offensichtlich nicht geschafft. Davon zeugen die Nachpflanzungen, die besonders mickrigen Exemplare. Neben einer Nachpflanzung steht noch das Haltegestell, das Stabilität bringen sollte. In einem anderen Geviert stiehlt ein Schild, das auf Videoüberwachung hinweist, dem Baum die Schau und den Platz.

Ungefähr in der Mitte der Bolkerstraße sind auf halber Baumhöhe die Überreste eines Vogelnestes zu erkennen, was natürlich die Frage aufwirft, ob bei Vögeln jetzt auch schon Wohnungsnot herrscht und sie sich daher mitten in der Hölle ansiedeln müssen. An einem anderen Baum ist eine Vermisstenanzeige angebracht. Guter Zweck, falscher Ort. Auch ein Baum hat doch möglicherweise das eine oder andere Recht. Wo sind eigentlich Baumschützer, wenn man sie mal braucht?

Kurzum: Das mit der Wiedergeburt kommt für mich nicht in Frage. Das Risiko, in die Hölle zu kommen, also als Baum auf der Bolkerstraße weiterexistieren zu müssen, ist mir zu groß. Da bleibe ich lieber noch lange lebendig und streichle bei meinen frühen Ausflügen den einen oder anderen Baum. Als Resozialisierungsmaßnahme sozusagen. Vielleicht hilft ihm das. Was weiß denn ich, wer dieser Baum früher einmal war, was er getan hat, dass er nun ein solch übles Leben in der Hölle fristen muss.