Tartuffe als Comic in leuchtenden Popfarben

Großer Jubel im Central für die Premiere des Molière-Stücks, das im rasanten Techno-Flug vorüberzieht. Die urkomischen Tableaus nehmen zum Ende hin tragische Züge an.

Foto: Sandra Then

Der Sohn Damis ballt die Fäuste, die Tochter Mariane duckt sich, die Mutter Elmire stampft wütend. Die sich windende Zofe Dorine schnauzt herum. Dann rucken, zucken und knirschen sie im Stakkato-Blitz. Ein lauter ‚Blubb’ — und plötzlich frieren ihre Marionetten-Bewegungen ein, ähnlich wie in einem Comic-Strip. Die Techno-Party-Stimmung im Hause des betuchten Bürgers Orgon wird empfindlich gestört. Panik macht sich breit; denn „Tartuffe“, der sich als frommer Mann ausgibt — und wie ein Erlöser, ganz in Weiß auftaucht — hat sich in Herz und Hirn des Hausherrn eingenistet und eingeschmeichelt. Angst und Schrecken macht sich in der Familie breit: Verdreht der Eindringling weiter dem reichen Orgon den Kopf, so könnte die Party bald am Ende sein.

„Das ist ja wie heute“, staunt ein Zuschauer im Central am Hauptbahnhof. Er scheint zu wissen, dass die gleichnamige Komödie über den Betrüger Tartuffe aus der Feder von Molière vor 350 Jahren im Palais Royal in Paris uraufgeführt wurde. Tatsächlich hat der Fünfakter, in dem Molière einst die Fraktion der Frömmelnden am Hofe Ludwigs XIV. vorführte, kein Staubkorn angesetzt. Besonders das Schreckensbild einer Diktatur von religiösen Heuchlern — nach Innen verkommen, nach Außen die Retter der Nation — gewinnt in unseren Trump-Tagen erstaunliche Aktualität. Das beweisen Regisseur Robert Gerloff, Ausstatter Maximilian Lindner und Kostümbildnerin Johanna Hlawica mit ihrer insgesamt werktreuen, hintergründigen und rasanten Comic-Inszenierung in leuchtenden Popfarben. Drei raumgroße Luftballons schweben durch den Raum und gebieten den panischen Bewegungen streckenweise Einhalt.

Und die Schauspieler? Sie nehmen exzellent das Turbo-Tempo und den hektischen Rhythmus auf, auch in ihrer Sprache, und verleihen den schimpfenden, ratternden Comic-Figuren menschliche Züge. Damis (wie ein Halbstarker: Stefan Gorski) in phosphorrotem Motorradfahrer-Dress, Mariane (Unschuld vom Land: Viola Pobitschka) in Knatschgelb, Mutter Elmire (Minna Wündrich) in Metallicblau, Orgon (Torben Kessler) in Orange und Tartuffe (Christian Erdmann) in Unschulds-Weiß. Alle, in glänzenden Latexanzügen und mit polierten Perücken, erscheinen als Comic-Kunstfiguren, die nach Tartuffes Pfeife tanzen, um nicht die Gunst (und das Geld?) des vom Heuchler verblendeten Vaters zu verlieren.

„Und Tartuffe?“ fragt Orgon immer wieder seine Frau Elmire oder Dorine, die sich als vorlaut plappernde und widerspenstig konternde Hüterin des gesunden Menschenverstands geriert (zackig und zickig gespielt von Claudia Hübbecker). „Der gute Mann“ beschwichtigt Orgon die Einwände, die sein Clan gegen Tartuffe vorbringt. Solche Sätze haben nichts an komödiantischer Wirkung eingebüßt — genauso wie die meisten Verse des Fünfakters, die in der Übersetzung von Wolfgang Wiens frisch und frech über die Rampe kommen.

Unterhaltung bieten viele der urkomischen Tableaus, die, zum Ende hin, tragische Züge annehmen. Dann, wenn der durch Elmire in einer hinreißenden Verführungsszene enttarnte Tartuffe die ganze Bagage aus dem Hause verjagen will — aus dem Haus, das Orgon zuvor in seiner grenzenlosen Naivität und Blindheit Tartuffe überschrieben hat.

Und das Finale? Zwar wird, wie im Original, Tartuffe vom allwissenden König überführt. Eine Deus-Ex-Machina-Geste, die im barocken Theater üblich war, aber heute nicht mehr richtig zünden will. Doch Gerloff und seine Mimen trumpfen nach dem Schlussakkord noch mal so richtig auf, kriegen gerade noch die Kurve. Sozusagen in letzter Minute bescheren sie dem Zuschauer eine wahrlich überraschende Wendung. Denn so leicht wie zu Zeiten des Absolutismus, in der einer von Gottesgnadentum abhängiger König die Fäden zog, geben Tartuffes unserer Tage nicht auf. Mögen sie Könige, Ober-Gurus oder Präsidenten sein. Sie zum Teufel zu jagen — dazu gehört schon mehr als nur eine Komödie.

Fazit: Ein rasanter Zwei-Stunden-Abend, der im Techno-Flug vorüberzieht. Jubel und Begeisterung. Und: Flucht der schweißgebadeten Mimen unter die Duschen, deren Latex-Montur wohl keinen Luftzug durchlässt.