Geisterspiele als Gewohnheit: Die TV-Dauerpräsenz  lässt vergessen, was den Fußball ausmacht – und das kann Folgen haben Erinnerung an Spiele ohne Einsamkeit

OSNABRÜCK · Ein Jahr Fußball ohne Fans, ein Jahr Geisterspiele als Gewohnheit. Corona hat viele vergessen lassen, was den Fußball ausmacht – denn nicht nur, aber gerade auch auf höchstem Level ist er so viel mehr als nur das reine Spiel.

Euphorie und Ernüchterung: Die voll besetzte Nordkurve im Borussia-Park und das erste „Geisterspiel“ der vergangenen Saison in Mönchengladbach.

Foto: dpa/Federico Gambarini

Eine Einordnung im Zuge einer nicht ganz melancholiefreien Erinnerung – an Stadionbesuche.

Vereinzelte dumpfe Schlachtrufe aus der Ferne. Die eigenen Vereinsfarben erstmals auf Trikots und Schals im Blickfeld. Steigende Spannung, wenn sich Busse und Bahnen stetig füllen, wenn Gespräche und Gesänge mit den Temperaturen und dem Dunst von Bier und Schweiß anschwellen – und sich am Ziel alles in einem erleichternden Moment auf den Platz vor der Arena ergießt. Die Silhouette des Stadions ist in Sicht, das Theater für Tausende, in Licht und Glanz gehüllt als verheißungsvolles Ziel des Zustroms. Dieser mystische Ort, den viele Fans oft noch mehr lieben als ihren Verein, weil man ein neues Stück Fußballdrama dort nicht nur miterleben, sondern selbst Teil davon werden kann.

All das gibt es nicht mehr, seit nun schon über einem Jahr. Auch im März 2020 stand der 26. Bundesliga-Spieltag an, als der Fußball in Deutschland erstmals überhaupt seit dem Zweiten Weltkrieg innehielt – nur Stunden vor Anpfiff der Zweitligaspiele am Freitag, dem 13. Getrieben von ersten Corona-Fällen und folgenden Quarantäne-Anordnungen für Fußballer bei Hannover 96, beim 1. FC Nürnberg und Verdachtsfällen beim damaligen Erstligisten SC Paderborn zog die Deutsche Fußball Liga nach langem Zögern umso fester die Notbremse: Zwei Monate gar kein Fußball, ab Mitte Mai die schrittweise Rückkehr der Profiligen im Geisterspiel-Modus. Bis auf kleine Ausnahmen im Sommer, als wenige Fans ein paar Spiele besuchen durften, blieben Zuschauer komplett außen vor. Volle Ränge im Stadion? Seither undenkbar. Bilder und Videos davon wirken aktuell wie aus einer anderen Welt.

Stattdessen: Trister grauer Alltagsverkehr auf dem Osterdeich in Bremen vor den Heimspielen bei Werder. Leere S-Bahnen zwischen Holzwickede und dem Signal-Iduna-Park in Dortmund, leere U-Bahnen zwischen dem Marienplatz und Fröttmaning in München: An großzügig ausgebauten, vor dem Anstoß sonst übervölkerten Bahnstationen verlieren sich nur vereinzelt Menschen in der Ferne.

Es ist einsam geworden um den Fußball. Eine Wahrheit, die nicht direkt sichtbar ist, wenn man in diesen Tagen den Profifußball-Sonderspielbetrieb im TV verfolgt. Dort, wo Dramen und Konflikte zwischen den Protagonisten einfach weiter inszeniert werden. Publikumsreaktionen darauf auch, über eingespielte Stimmungs-Klangteppiche aus der Konserve oder die Präsentation von treffenden Twitter-Reaktionen aus dem Internet – dorthin, wo sich die Fans in Corona-Zeiten zwangsweise zurückziehen. Was inzwischen unkommentiert bleibt, weitestgehend ausgeblendet wird oder als weitere Werbefläche für die TV-Übertragungen zweckentfremdet, ist das, was der Inszenierung unten auf dem Rasen eigentlich Hohn spricht: die komplett leeren, verwaisten Tribünen.

Nur das Produkt Profifußball hat überlebt – und wer behauptet, das reine Spiel auf dem Rasen auch, vergisst, dass die allermeisten Aktiven nicht kicken dürfen: Fünf Millionen Fußballer abseits der Ligen im Sonderspielbetrieb. Nur 0,07 Prozent der über 145000 im Deutschen Fußball-Bund registrierten Mannschaften sind derzeit als Profis unter strengen Hygieneauflagen und regelmäßiger Testung aktiv. Semi-Professionelle und Amateurfußballer sind zum Zuschauen verdammt, darunter ausnahmslos alle Kinder und Jugendlichen in 87000 Junioren- und Mädchenteams. Das soziale Leben in bundesweit 25000 Vereinen liegt am Boden.

Der High-End-Fußball spielt weiter, weil er für das Erlangen einer Corona-Sondergenehmigung sein Geschäftsmodell als Kern offenbart hat. Das hatten seine Macher zuvor nie so offensiv getan. Da war die Einheit des Spiels von der Kreisklasse bis in die Bundesliga auch ein zentraler Wert, die gewaltige Tradition war ein weiterer – nun ist es das reine Business, in dem Geld verdient und Arbeitsplätze gesichert werden. Sicherlich stichhaltige und existenzielle Motive: Der Schritt zur eigenen Rettung in der Krise war das gute Recht der Profis und der Großclubs. Damit haben sie aber auch ein Stück weit ihre Seele verloren und verkauft.

Denn mit der Aussperrung der Fans verschwand nicht nur die Möglichkeit des Stadionbesuchs. Mit ihm ging das Stadionerlebnis: kollektive Emotionen des Glücks und des Leids in der Gruppe sind verschwunden. Dazu Gefühle von Heimat, Identität und Zugehörigkeit: Im Leben vieler Menschen zentrale Werte, die Gemeinschaftserlebnisse beim Fußball stiften können. In Vor-Pandemie-Zeiten galt zudem als einzigartige Stärke des Fußballs, verschiedene Schichten der Gesellschaft friedlich an einem Ort und für eine Sache zu vereinen.

Erlebnisse wirken an
der Bierbude nach

So musste der gesetztere Dauerkarten-Sitzplatzinhaber gar nicht alles gut finden, was die jungen, wilden Fans in der Kurve machten – erleben aber wollte er es. Es bot den Anlass, sich aufzuregen über die Pyrotechnik, aber sich auch animieren zu lassen bei Anfeuerungsrufen der eigenen Elf. Erlebnisse, die nach dem Spiel an der Bierbude weiterwirken, diskutiert werden und verbinden.

Auch Public Viewings oder TV-Fußball mit vielen Freunden können solche Effekte teilweise erzeugen. Gruppenerlebnisse aber hat Corona alle zunichtegemacht. Stattdessen zwingt die Pandemie die zur Tatenlosigkeit verdammten Fußball-Liebhaber zum TV-Konsum der Geisterspiele in Einzel-Isolation. Eine Ersatzdroge auf Entzug, die nie ans Original der Vor-Corona-Zeit heranreicht.

Zumal sich ja auch das Spiel selbst zuletzt verändert hat – auch abseits des unseligen Videobeweises. Mit den Menschen ging die Stimmung. Sie kann nicht von den Steinen leerer Tribünen auf das Feld überschwappen. Keine Emotionen abseits des Feldes, die Fußballer mitreißen – oder aus der Fassung bringen und verunsichern können. Man muss nicht Fan der unter historischen Sieglos-Serien leidenden Clubs Schalke 04 oder VfL Osnabrück sein, um zu glauben: Im engen, brodelnden Heimstadion kann die in Richtung der explodierenden Fankurve drängende Mannschaft kurz vor Schluss leichter den Ausgleich schaffen. Wobei es im Kern gar nicht darum geht, ob das statistisch wirklich öfter passiert.

Es ist zweitrangig, ob der Ausgleich fällt oder nicht

Es geht darum, dass das kollektive Erlebnis für viele Tausend Menschen ausfällt. Es fehlt die Intensität einer vom Spielgeschehen gebannten Masse, die Spannung, die man auch später noch einmal durchleben oder durchleiden kann. Es fehlt hinterher die Erinnerung daran, wie überragend die Stimmung in dieser Schlussphase war. Dabei ist es fast zweitrangig, ob tatsächlich noch der Ausgleich gefallen ist oder nicht.

Es geht darum, dass Fußball mit Fans packt und alle mitreißt. Das vermag der sterile Kick unter Ausschluss der Öffentlichkeit kaum bis gar nicht, der seit einem Jahr läuft. Das ist ein ganzer Jahrgang an Fans, der nicht sozialisiert werden konnte mit dem Erleben enger Duelle, grandioser Choreografien zur Einleitung der Spiele – oder auch mit ihrer Erstellung durch engagierte Ultras Tage und Wochen zuvor.

Der High-End-Fußball
findet auf dem Platz statt

Und ja, es ist auch ein Jahrgang, der den High-End-Fußball noch nicht mit eigenen Augen auf dem Feld gesehen hat – und ihn auf der TV-Mattscheibe vielleicht eher als virtuelles Playstation-Duell wahrnimmt und einordnet. Die Superzeitlupen und vielen Winkel der Kameraeinstellungen im TV können das befördern – und die Leistungen der Profis unter Stress bei hohem Tempo trivialisieren. Auch weil die Jugend nicht selbst spielen darf, bleiben Verständnis und Faszination für Athletik, individuelle Fähigkeiten und gekonnte Bewegungsabläufe auf der Strecke, genau wie für Ereignisse und Emotionen abseits des Spiels.

Ob jener Jahrgang dem Fußball und seinen Vereinen nach der Pandemie automatisch zuläuft? Ob es reicht, wenn Fans erst mal wieder ins Stadion dürfen? Ob überhaupt alle Fans, die da waren, dauerhaft wiederkommen? Die Fragen haben Relevanz erhalten, weil die Corona-Ausnahmelage nun ein Stück Gewohnheit geworden ist.

Selbst die idealistischsten unter den Fans haben dabei zur Kenntnis nehmen müssen: Der Kern des Profifußballs ist das Geldverdienen. Sie haben enttäuscht registriert, dass von vollmundigen Reform-Versprechen bei der Etablierung der DFL-Taskforce „Zukunft Profifußball“ nur eine dünne Abschlusserklärung übrig geblieben ist – ohne Festschreibung konkreter Schritte für gerechtere, nachhaltigere Wettbewerbe, ohne Beschränkungen längst ausufernder Finanz- und Ablösekapriolen.

Vielleicht werden einige Fans, wenn eines Tages auch viele andere Freiheiten und Möglichkeiten des Lebens zurückkehren, ihren Alltag etwas ausgewogener gestalten, weniger stark auf den Besuch des Profifußballs ausrichten – und diesen dann auch in geringerem Maße alimentieren.

Denn viele lernten in der Krise zwangsweise, dass es ohne die totale Fixierung auf jedes im Kalender irgendwie etablierte Spiel gehen kann. Im Gegensatz zu einem Business, dem der eigene Sonderweg durch die Krise auf lange Sicht durchaus ein wenig auf die Füße fallen könnte.