Melina, Leonie, Sophie, Timo, Luca: fünf tote Kinder – ein verstörender, schockierender Fall und die quälende Frage: Warum? Grauen und quälende Fragen in Solingen

SOLINGEN. · Links vor der Wohnungstür steht ein buntes Kinderfahrrädchen mit einem lustigen Bärchen-Motiv. Rechts ein überquellendes Schuhregal im Hausflur. Mit großen und kleinen Turnschuhen, pinkfarbenen Mädchen-Sandalen.

Teddybären, Kerzen und Blumen liegen und stehen vor dem Haus in Solingen, in dem fünf tote Kinder gefunden worden sind.

Foto: dpa/Roberto Pfeil

Am Boden ein Paar Jungen-Sommerschuhe, die das Kind offenbar eilig von den Füßen gestreift hat. Es sieht aus, als ob hier eine glückliche, quirlige Familie wohnt. Ein drastischer Trugschluss, wie man seit Donnerstag weiß. An dem Tag, an dem man die Leichen von fünf Kindern fand. Sie sind mutmaßlich erstickt, wie die Ermittler am Freitag schildern.

Was sich hinter der Tür in der Wohnung an der Hasselstraße in Solingen abgespielt hat – man kann nur spekulieren. Entsetzlicher Fakt ist: Fünf der sechs Geschwister, die hier lebten, sind tot – zwei Jungen, drei Mädchen. Das älteste Kind wurde acht Jahre alt, das jüngste ein Jahr, wie Einsatzleiter Robert Gereci berichtet. Nur ein Geschwisterkind lebt, Marcel, ein elfjähriger Junge – er ist in die Obhut seiner Oma in Mönchengladbach gegeben.

Am Tag nach dem Fund der toten Kinder ist vieles noch offen. Die Polizei fand alle Fünf in ihren Betten liegend, Anzeichen „scharfer oder stumpfer Gewalt“ gibt es nicht. Ein Bild des Grauens, schwer zu ertragen für die Ermittler, betont der Einsatzleiter. Nicht auszuschließen, dass die Mutter ihnen auch eine Substanz verabreichte, die toxikologischen Untersuchungen stehen noch aus. Man habe eine Frühstücksituation in der Küche vorgefunden. Schälchen standen noch auf dem Tisch, berichtet der Leiter der Mordkommission, Marcel Maierhofer.

Quälend ist auch die Frage nach dem Motiv – was trieb die Frau an? Eine Tat im „Zustand emotionaler Überforderung“, meint Staatsanwalt Heribert Kaune-Gebhardt. Man habe vorher aber keine Hinweise darauf gehabt, dass das Kindeswohl gefährdet gewesen sei. Vier Getötete stammten aus einer zerrütteten Ehe, die Partner lebten seit einem Jahr voneinander getrennt. Zwei weitere Kinder hatte die Mutter aus vorherigen Beziehungen. Keiner der drei Väter ist tatverdächtig. Der Staatsanwalt sagt, es sei Haftbefehl gegen die Mutter beantragt worden. Dann kommt er nach Ende der Pressekonferenz noch mal kurz raus zu den Medienvertretern: Soeben wurde Haftbefehl gegen die Frau erlassen. Sie ist noch nicht vernehmungsfähig.

Die Kinder – Melina, Leonie, Sophie, Timo und Luca – hatten eigentlich noch ihr ganzes Leben vor sich. Warum ist Marcel der einzige, der nicht getötet wurde? Die Ermittler können nur mutmaßen, vielleicht hatte er einfach Glück, dass er zur Tatzeit in der Schule war. Die Mutter holte ihn dort unter einem Vorwand am Donnerstagmittag früher ab, da waren seine Geschwister schon tot. Sie fuhren nach Düsseldorf, Marcel gelangte von dort aus allein zur Oma in Mönchengladbach.

Die 27-Jährige hatte auf der Fahrt ihre Mutter angerufen. Sie könne einfach nicht mehr. Die Kinder seien tot, sie selbst werde sich auch umbringen. Bei dem Suizidversuch – sie warf sich am Düsseldorfer Hauptbahnhof vor einen einfahrenden Zug – erleidet sie innere Verletzungen. Marcel schreibt etwa zu dieser Zeit in einem schulischen Gruppenchat, alle seine Geschwister seien tot. Und der Vater, die Väter? Man erfährt praktisch nichts über sie. Nur, dass der 28 Jahre alte Vater der vier Kinder informiert ist.

Sprachlosigkeit
am Tag danach

Am Tag danach herrscht am Tatort Sprachlosigkeit. Stille ist eingekehrt. Alle Absperrungen sind aufgehoben. Für die Beamten haben die Spuren vor Ort gesichert, sind abgezogen. Vor dem Hauseingang, an den Briefkästen, brennen am Freitag Kerzen. Anwohner haben auch Stofftiere und Blumen niedergelegt.

In Düsseldorf zeigt sich Ministerpräsident Armin Laschet (CDU) schockiert. „Das lässt einen im Tagesgeschäft innehalten“, sagt er. Bundesfamilienministerin Franziska Giffey (SPD) trauert: „Fünf kleine Leben sind gestern ausgelöscht worden – das übersteigt unsere Vorstellungskraft von dem, was Menschen imstande sind zu tun.“ Man dürfe aber nicht vorschnell urteilen. Der Familie seien von der Stadt „erforderliche Unterstützungen gewährt worden, teilt ein Sprecher mit. Das Solinger Jugendamt habe zusätzliche Hilfsangebote unterbreitet. Aber: „Erkenntnisse zu Auffälligkeiten oder einer potentiellen Gefährdung der Kinder gab es zu keinem Zeitpunkt.“

Dass eine Mutter eine solche Tat begehe, habe er bisher nie erlebt, betont Kriminalexperte Axel Petermann. „Diese Gewalt bedeutet ja auch für jede einzelne Tötung einen neuen Entschluss.“ Ulrike Zähringer von der Akademie der Polizei Hamburg sagt auf die Frage, warum Eltern ihre Kinder töten, dass Trennungssituationen oft eine Rolle spielten. Der Täter oder die Täterin sehe sich in einer ausweglosen Situation, wünsche sich zu sterben und könne sich nicht vorstellen, die Kinder allein oder in einer getrennten Familie ihrem Schicksal zu überlassen.