Theater Düsseldorf Hyperreal oder die neue Wirklichkeit

DÜSSELDORF · Das Schauspielhaus eröffnet mit der Uraufführung einer dystopischen Science-Fiction-Komödie die Spielzeit 2020/21.

Mit der Uraufführung von „Hyperreal" ist das Düsseldorfer Schauspielhaus in die neue Spielzeit gestartet.

Foto: Thomas Rabsch

Ausverkauft nennt Intendant Schulz das: Im Düsseldorfer Schauspielhaus, dem höchst subventionierten und einzigen NRW-Staatstheater sitzen gerade mal 180 Zuschauer – ein Haus, in dem normalerweise mehr als 700 Menschen bequem Platz haben. Jede zweite Reihe ist gesperrt. Freie Plätze auch zwischen Zweier-Gruppen. Masken dürfen erst am Platz abgenommen werden. „Neue Normalität“ heißt das, nicht nur in Düsseldorf, sondern in ganz Nordrhein-Westfalen, wo in diesen Tagen die 22 städtischen Bühnen (auch Krefeld-Mönchengladbach) ihren Spielbetreib wiederaufnehmen. Wuppertal startet eine Woche später. Das Tanztheater Pina Bausch feierte aber bereits am Donnerstagabend in der Oper die Premiere der Wiederaufnahme von „Er nimmt sie an die Hand und führt sie in das Schloß, die anderen folgen“.

Beendet ist in diesen Tagen damit die längste Pause der Theatergeschichte, die es in der Nachkriegszeit gegeben hat. Vereinzelt, vereinsamt – so sitzen die Zuschauer im Saal und lassen die Bilder und Erinnerungsfetzen an die heiße Phase des Lockdowns auf sich niederprasseln – genauso wie die da oben auf der Bühne rumspringen, zappeln, schlackern und schlottern.

„Hyperreal“ nennt Constanza Macras ihr Psycho-Comedy-Musical im Science-Fiktion-Look, in dem sie den Corona-Lockdown und seine psychischen Folgen für Familien und Singles auf die Schippe nimmt und mit mythologischem Klimbim anreichert. Sicher sinnvoll, nach dieser Zwangspause die „Stadtgesellschaft“ mit Social-Distance-Erfahrungen und Corona-Alltag nicht alleinzulassen und damit eine Spielzeit der anderen Art zu eröffnen.

Vorweg: Die ersten 80 Minuten halten Tänzer und Schauspieler die Spannung in einer ewig kreisenden Raumkapsel (Bühne: Alissa Kolbusch) – bewahren die Balance zwischen grotesk zugespitzter Satire (manchmal ist es Kabarett im besten Sinne) und hyperrealer, beklemmender Atmosphäre. Doch danach fallen kleine und mannshohe Kartons vom Himmel, direkt aus „Amazonien“: Paketboten in Grashüpfer-Grün mühen sich mit Songs und ulkigen Tanznummern ab, und selbst Schauspielstars wie Friederike Wagner (Gast aus Zürich) quälen sich und ihr Publikum mit seltsam verqueren Monologen über den geeigneten Sattel für ihr Pferd. 15 Minuten lang. Während der Pandemie hat sich bei manchem wohl das Zeitgefühl verschoben.

Die argentinische Autorin (auch Regisseurin und Choreografin) findet kein Ende, liebt schöne Tanztheater-Bilder mit antiken Göttern in farbigen Ballkleidern (wie einst Pina Bausch) und rettet sich schließlich nach pausenlosen 150 Minuten in eine schrille Party. Hier dominiert der athletische, vielbegabte Musicalstar und Showtänzer Serkan Kaya in knallengen Glitzerpants, der auch noch stilecht in Spitzentönen schnulzen kann. Seine temperamentvollen Auftritte als Latin-Lover oder Göttin in güldener Robe retten über manche Längen hinweg.

Intelligent gemacht indes der Anfang mit Lockdown-Reminiszenzen, die vor sechs Monaten die meisten wohl für weit hergeholt hätten. Den ganzen Tag eingesperrt in vier Wänden (auf der Bühne sind sie geöffnet), putzen sie permanent Wohnung und Fenster, kochen, backen und surfen in digitalen Welten – der einzigen Verbindung zur Außenwelt. Sie bestellen per Mausklick Haushaltsgeräte und Rudermaschinen. Machen Fitness-Übungen im Wohnzimmer, trinken und trinken. Und machen ihrem Frust Luft mit dem Rock-Song „Ich hab’ Quarantäne-Migräne“.

Anna Sophie Friedmann beschwört in breitem Wienerisch eine neue Diät, mal vegan, dann wieder ohne Kohlenhydrate mit viel Fleisch und Fett. Und parodiert den Trend zum Intervallfasten. Sebastian Tessenow indes erzählt von seinem Lieblings-Science-Fiction-Roman, Aldous Huxleys „Schöne, neue Welt“.

Von einer Gesellschaft mit ständiger Selbstoptimierung, künstlicher Fortpflanzung und genetischer Selektion. Und lässt munter Alphas, Betas und Gammas tanzen. Andere berichten von leeren Bahnhöfen und Flughäfen. Oder lümmeln sich, allein, zu Hause, machen Gymnastik auf Sofas und Sesseln.

Aber auch Nörgler kommen zu Wort, klagen über Freiheitsverlust, kramen in alten Fotos, flüchten in die Vergangenheit, weil sie plötzlich keine Zukunft mehr haben. Zumindest glauben das einige. In wenigen Passagen aber flackert die Hoffnung auf – so in einer Lockdown-Ballade, in der eine Sängerin die Zukunft planen will.

Fazit: Der erste Teil ist pfiffig, spitz und schwarzhumorig umgesetzt, Teil zwei kommt zerfranst und am Ende ein wenig mühsam daher.

Termine: „Hyperreal“, 6., 26., 27. September, 9., 22., 23. Oktober. Karten, personalisiert, müssen vorbestellt werden.