Gegen die Hoffnungslosigkeit Kirchentag in Dortmund - Glaubensfest gegen die Mutlosigkeit
Dortmund · Der Evangelische Kirchentag in Dortmund versucht sich inmitten düsterer Analysen der Gegenwart als Hoffnungsträger zu etablieren. Aber Zweifel sind auch ihm nicht fremd.
An der Dasa, der großen Arbeitsweltausstellung im Dortmunder Westen, beginnt der erste Veranstaltungstag des 37. Deutschen Evangelischen Kirchentags am Fronleichnamstag mit Verärgerung. Die bei den Teilnehmern zum Auftakt jedes Tages gefragte Bibelarbeit wird an diesem Tag hier von Jürgen Ebach übernommen. Den kennen außerhalb des Kirchentags und der Theologen nur die wenigsten, bei dem zweijährlichen Protestantentreffen aber ist der geistreiche und humorvolle, inzwischen emeritierte Theologieprofessor seit 1985 einer der großen morgendlichen Publikumsmagneten. Die ausgewählte Halle ist viel zu klein, Hunderte warten vergeblich draußen auf Einlass, die ehrenamtlichen Helfer sind überfordert. Unmut macht sich breit.
Ist eine solche Randepisode nun ein kleiner Beleg für die ungebrochene Faszination des Kirchentags – oder für die organisatorische Unvollkommenheit des Laientreffens? Und was macht überhaupt Erfolg oder Misserfolg dieser Großveranstaltung aus? Bei ihren Befürwortern wie bei ihren Gegnern herrscht immer wieder eine Art Zahlenfetischismus vor. Den einen sollen die Zahlen der Ermutigung dienen, den anderen als Beleg für den nun auch beim Kirchentag angekommenen Bedeutungsverlust von Kirche und Religion.
Nüchtern betrachtet haben sich die Erwartungen an die Zahl der Dauerteilnehmer und Besucher am Eröffnungsabend zwar nicht ganz erfüllt. Für größere Frustration im Präsidium sorgt das aber dem Bekunden nach nicht. Als Teilerklärungen halten das unsichere Wetter am Mittwochabend, die vielen Pendler aus dem Ballungsraum Ruhrgebiet und die womöglich geringere Attraktivität Dortmunds her. Aber überfüllte Straßenbahnen gibt es immer noch, die grünen Schals der Kirchentagsteilnehmer prägen das Innenstadtbild in Dortmund.
Manche Gemeinden haben nicht genügend Ehrenamtliche
Andererseits lassen sich auch Hinweise auf den allgemeinen kirchlichen Rückzug nicht übersehen. Manche innenstadtnahen Schulen konnten nicht mit Teilnehmern belegt werden, weil die örtlichen Gemeinden nicht mehr in der Lage waren, genügend Ehrenamtliche zur Betreuung aufzubringen. Und die nur 40 000 Besucher der Eröffnungsgottesdienste knüpfen an die nicht erfüllten Erwartungen beim großen Abschlussgottesdienst des Reformations-Kirchentags 2017 in Wittenberg an.
Kirchentag – das ist seit seiner Gründung mindestens immer ein Dreiklang: gesellschaftspolitisches Debattenforum (gerne mit dem Anspruch, prägend zu sein), Glaubensfest und Kulturereignis. Der politische Part genießt traditionell immer die größte Außenwirkung. Und zwei Großveranstaltungen am Donnerstag erscheinen dabei fast exemplarisch für Behäbigkeit und Vitalität des Kirchentags.
Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier fordert am Donnerstag beim Podium „Zukunftsvertrauen in der digitalen Moderne“ in der fast vollbesetzten Westfalenhalle eine „Ethik der Digitalisierung“. Europa sei ein „alternatives Angebot zwischen dem unbeschränkten Digitalkapitalismus und orwellianischer Staatsüberwachung in China“. Sein Appell für eine aktive Gestaltung der Digitalisierung endet mit dem Bekenntnis: „Ich bin 63 Jahre alt, ich habe weiße Haare – und ich freue mich unglaublich auf Zukunft.“
Auf dem Podium sitzen dann aber mit der einstigen Bundesbildungsministerin Annette Schavan (64) und dem Wissenschaftsjournalisten Ranga Yogeshwar (60) nur noch zwei Altersgenossen. Letzterer fordert: „Die Diktatur der Transparenz dürfen wir nicht zulassen“ und warnt davor, die Netzkommunikation zur „Erregungsbewirtschaftung“ verkommen zu lassen. Aber es erschließt sich nicht wirklich, warum der Kirchentag die Bewertung der digitalen Zukunft allein der Generation 60plus überlässt. Das Erwartbare plätschert etwas behäbig vor sich hin.
Daniel, Steven und Maximilian, drei 13-jährige Konfirmanden der Evangelischen Kirchengemeinde Gerolstein, verlassen die erste Großveranstaltung ihrer eintätigen Kirchentagspremiere jedenfalls vor der Zeit. Das Smartphone und das Internet sind fester Bestandteil ihres Alltagslebens. „Dass speziell daran ein Problem sein soll, war mir nicht bewusst“, sagt Daniel.
Zwei Stunden später zeigt sich der Kirchentag dagegen von seiner leidenschaftlichen, auch kämpferischen Seite. Alle Planungen waren abgeschlossen, als Leoluca Orlando, Oberbürgermeister von Palermo, erfolgreicher Mafiabekämpfer und heute entschiedener Streiter für die Seenotrettung, signalisierte, nach Dortmund kommen zu wollen. Innerhalb von Tagen wird eine außerplanmäßige Großveranstaltung aus dem Boden gestampft.
Kirchentagspräsident Hans Leyendecker („Man darf das Meer nicht denen überlassen, die aus ihm einen Friedhof der Menschenrechte machen“) kündigt den Anwalt, Schriftsteller und Politiker als „Sozialrevolutionär“ an. Orlando, der auf den Todeslisten der Mafia ganz oben stand, verbindet die Sorge um sein eigenes Leben mit dem Schicksal der Flüchtlinge auf dem Mittelmeer. „Ich kann nicht mich retten, wenn ich nicht andere rette.“ In Palermo weigert er sich, von Migranten zu sprechen. „Ich mache keinen Unterschied zwischen den Menschen.“
Forderung nach Aufnahme der Flüchtlinge auf der Sea-Watch
Heinrich Bedford-Strohm, Ratsvorsitzender der Evangelischen Kirche in Deutschland, fordert am Weltflüchtlingstag, „dass die 43 Flüchtlinge, die seit einer Woche auf der Sea-Watch 3 vor Lampedusa warten, endlich an Land können und sicher sind“. So schnell wie möglich und nicht erst im Herbst müsse auch ein Verteilmechanismus in Europa gefunden werden, damit nicht bei jeder Seenotrettung neu verhandelt werden müsse.
Mehr als 60 Städte in Deutschland sind inzwischen dem Vorbild von Düsseldorf, Köln und Bonn gefolgt und haben ihre Bereitschaft erklärt, über ihr Kontingent hinaus Flüchtlinge aufzunehmen. Für Düsseldorfs Oberbürgermeister Thomas Geisel ist der Umgang mit der Seenotrettung „der Lackmustest, ob Europa ein zivilisierter Kontinent, Deutschland ein zivilisiertes Land und Düsseldorf eine zivilisierte Stadt sind“. Der gemeinsame Appell, die Häfen zu öffnen und die Seeflüchtlinge an Land zu lassen, trifft den Nerv des Kirchentagspublikums. Stehende Ovationen zur gegenseitigen Ermutigung.
Das Bedürfnis, neuen Mut zu schöpfen, ist in Dortmund ohnehin allenthalben zu spüren. Einer, dem das auf brillante Weise gelingt, ist der Soziologe Aladin El-Mafaalani, Bestseller-Autor („Das Integrationsparadoxon“) und scheidender Abteilungsleiter im Düsseldorfer Integrationsministerium: „Mit Hoffnung erträgt man das Schlimmste ganz gut, ohne Hoffnung erträgt man noch nicht mal den Wohlstand.“
Seine zentrale These, wonach eine Zunahme gesellschaftlicher Konflikte nicht Ausdruck gescheiterter, sondern gelingender Integration sind, vertritt El-Mafaalani auf der Veranstaltung „Einwanderung ist, wenn alle sich bewegen müssen“. Und hält dabei den Schwarzsehern entgegen: „Früher war nichts besser als heute, außer einem: der Zukunft. Und daran kann man noch etwas ändern.“
„Die Welt ist so unsicher
wie lange nicht mehr“
Am Freitagmorgen reiht sich noch der Münchner Journalist Heribert Prantl („Süddeutsche Zeitung“) in den Reigen der Ermutiger ein – auch wenn er zuvor in seinem einstündigen Vortrag in der Westfalenhalle ein düsteres Bild malt: „Die Welt ist so unsicher wie lange nicht mehr.“ Aber das Gegenteil von Angst und Furcht sei nicht der Heldenmut, „sondern die Hoffnung“. Der Journalist setzt auf die Kraft des Widerstands und sieht den Kirchentag als einen Verstärker dafür.
Aber sind an dieser Rolle nicht inzwischen Zweifel erlaubt – wie an der Wirkkraft des Glaubens überhaupt? Jürgen Ebach, inzwischen von einem schweren Schlaganfall gezeichnet, im Rollstuhl sitzend und halbseitig gelähmt, hatte seine Bibelarbeit über das Leiden des biblischen Hiob am Donnerstagmorgen in der Dasa so beendet: „Ich vertraue auf und glaube an die Wahrheit und an die Bewährung biblischer Worte. Und ich glaube daran, dass der Zweifel nicht gegen den Glauben steht, sondern zu ihm gehört.“