Jugendhilfe Der Bedarf an Pflegefamilien ist in Krefeld besonders groß

Viele kleine oder Kinder mit besonderen Bedürfnissen werden in Obhut genommen – auch weil Bürger mehr Hinweise geben.

Pflegefamilien stellen sich großen Herausforderungen – und dürfen viele positive Entwicklungen begleiten.

Foto: dpa/Marcel Kusch

„Wir brauchen dringend mehr Pflegestellen“, sagt Maria Nellessen. Sie leitet beim privaten Kinder- und Jugendhilfeträger Educura den Bereich Bereitschaftspflege und weiß, wie hoch der Bedarf an zusätzlichen Pflegefamilien in Krefeld ist. „Wir haben 15 Plätze in zehn Familien und derzeit sind alle belegt.“ Bereitschaftspflege bedeutet, dass Kinder unter drei Jahren, die von ihren Familien getrennt werden, durch das Jugendamt für einen begrenzten Zeitraum in einer Pflegefamilie untergebracht werden, bis entschieden ist, ob sie zu ihrer Familie zurückkehren oder in eine Langzeit-Pflege gehen.

„Wünschenswert ist ein Aufenthalt in der Bereitschaftspflege von maximal sechs Monaten, das ist aber absolut unrealistisch“, so Nellessen. Das liege zum einen daran, dass es lange dauert, bis die Erziehungsfähigkeit der leiblichen Eltern geprüft ist, Gutachten erstellt wurden. Zum anderen sind aber auch die Plätze bei Langzeitpflegefamilien stark ausgelastet. „Das längste war bislang eine Unterbringung über drei Jahre.“ Solch lange Aufenthalte gingen dann manchmal in eine Dauerpflege über, weil sich Kind und Pflegefamilie nach so langer Zeit nicht wieder trennen mögen. „Aber diese Familien fehlen uns dann natürlich wieder in der Bereitschaftspflege“, sagt Nellessen.

„Die Aufnahmekapazitäten in Pflegefamilien sind derzeit fast vollständig ausgelastet“, bestätigt auch Stadtsprecher Leon Weiß. Derzeit sei Krefeld in der familiären Vollzeitpflege für rund 260 junge Menschen zuständig. „Diese werden in 194 Pflegefamilien beziehungsweise bei Trägern der freien Jugendhilfe innerhalb und außerhalb von Krefeld untergebracht, die Pflegefamilien betreuen.“

Der Landschaftsverband Rheinland (LVR) sieht für Kinder unter sechs Jahren keine Unterbringung in Heimen oder Wohngruppen vor. „Die Vollzeitpflege bietet Kindern, die nicht in ihren eigenen Familien leben können, die Chance, familiäre Bindungen zu erleben und aufzubauen“, so Weiß. Ein Aspekt sei auch die Verwandtenpflege, bei der Angehörige wie Tante oder Großmutter als Pflegeperson in Frage kommen.

In Krefeld ist der Anteil an Vollzeitpflege in Familien besonders hoch. „Krefeld nimmt mit anderen mittleren Großstädten an dem Städtevergleichsring ‚Hilfen zur Erziehung NRW’ teil“, so Weiß. Auf Grundlage der Daten von 2023 sei allgemein eine Absenkung des Anteils an Kindern in Pflegefamilien und ein Anstieg bei der Heimerziehung und sonstigen stationären Hilfen zu beobachten – ein bundesweiter Trend. Krefeld habe aber unter den am Vergleichsring beteiligten Städten den größten Anteil in Kindern in Pflegefamilien und Erziehungsstellen zu verzeichnen.

In der stationäre Heimerziehung waren im ersten Quartal 2024 in Krefeld 364 junge Menschen untergebracht. In der familiären Bereitschaftsbetreuung waren es in dieser Zeit 26 Kinder bei zwei Trägern. Zudem gebe es zunhemend Kinder, die durch besondere Traumatisierungen oder Einschränkungen nicht in Pfelegfamilien untergebracht werden können. Diese wohnen in den genannten Erziehungsstellen, die Wohngruppen ähneln und von geschulten Pädagogen betreut werden. „Sie waren ursprünglich für ältere Kinder gedacht. Aufgrund fehlender Pflegefamilien und steigender Bedarfe werden die Kinder in dieser Hilfeform immer jünger“, sagt der Stadtsprecher. Die Stadt Krefeld habe im ersten Quartal 2024 insgesamt 24 Kinder in Erziehungsstellen außerhalb von Krefeld untergebracht.

Die Rückmeldungen und Erfahrungen aus den Berietschaftspflege-Familien seien nahezu immer positiv, sagt Maria Nellessen. Nur in äußerst seltenen Fällen wechsle ein Kind die Familie. „Die meisten Pflegeeltern freuen sich über die positven Veränderungen bei den Kindern nach einigen Wochen, wenn sie wieder lachen und aufblühen.“

Denn es sind meist extreme Umstände, die dazu führen, dass Kinder aus ihren Familien genommen oder abgegeben werden. „Kinder werden im Ramen von Kriseninterventionen in Sicherheit gebracht, wegen sozial-emotionaler Probleme, finanzieller Unsicherheiten, fehlendem Obdach oder Drogenmissbrauch“, erklärt Nellessens Kollegin Maren Ross, Sozialarbeiterin und Leiterin der ambulanten Hilfen bei Educura. „Diese Kinder brauchen ein stabiles Umfeld, Struktur, Liebe, richtiges Essen und manchmal erstmals ein eigenes Bettchen.“ Dabei gebe es viele Hilfsangebote, auch über das Jugendamt, die Familien in Anspruch nehmen könnten, bevor es überhaupt zu einer Inobhutnahme kommt. „Nur sind diese Hilfen teils nicht bekannt oder die Leute genieren sich, offen mit Fremden über ihre Probleme zu reden.“

Um die Kinder auffangen zu können – und das in der Regel kurzfristig – werden die Pflegefamilien ausführlich über einige Monate vorbereitet, mit Gesprächen und Seminaren, eine Ausstattung muss her und die Eltern werden als Honorarkräfte angestellt. Und wenn es soweit ist, gibt es eine intensive Begleitung. „In den ersten 24 Stunden bin ich rund um die Uhr erreichbar, in den ersten Wochen folgen dann fast täglich Hausbesuche. Auch der Umgang mit den leiblichen Eltern, wenn er vorgesehen ist, kann bei uns stattfinden und wir fangen später die Trennung professionell auf“, sagt Nellessen.

Was man brauche, das seien „Eltern aus Überzeugung, die den Umgang mit Kindern lieben und sie ins Herz schließen können, die bereit sind, sie in die eigenen Familie aufzunehmen.“ Besonders eigneten sich dafür Menschen, deren eigene Kinder schon größer sind oder aus dem Haus, und die gerne – zumindest vorübergehend – Kindern in Krisensituationen ein Heim und Sicherheit geben möchten. Auch Alleinstehende eigneten sich, wenn sie finanziell sicher aufgestellt sind.

Gründe für den zunehmenden Bedarf an Pflegeeltern gebe es einige. Da sei zum einen der Fachkräftemangel, die Bedenken potenzieller Pflegeeltern, aber auch eine erhöhte Aufmerksamkeit in der Gesellschaft. „Die Sensibilität in der Bevölkerung ist gewachsen und Auffälligkeiten werden dem Jugendamt häufiger gemeldet“, sagt Maren Ross. Der Ausbau an Pflegestellen sei jedoch schwierig. „Die aktuelle Situation in Krefeld ist herausfordernd“, so Weiß. Der Ausbau des Pflegekinderwesens stoße allgemein gerade im urbanen Umfeld an Grenzen, „weil es immer schwieriger wird, geeignete und sich bereit erklärende Familien zu finden“. In ländlich geprägten Regionen gelinge dies noch besser. Die Bemühungen der Stadt umfassten die Akquise neuer Pflegefamilien, den Ausbau bestehender Einrichtungen und die Zusammenarbeit mit externen Trägern. „Darüber hinaus werden Informationskampagnen durchgeführt, um mehr Familien für die Pflege zu gewinnen.“

„Es wäre toll, wenn sich mehr Menschen mit dem Thema beschäftigten und sich auch einmal unverbindlich bei uns melden“, sagt Maria Nellessen. „Denn auch wenn die Aufgabe herausfordernd ist, macht sie den Familien wahnsinnig viel Freunde. Und die allermeisten, die sich einmal getraut haben, bleiben danach auch dabei.“