Der NS-Terror wirkt bis zur letzten Minute

Die Angst ist bis zum Kriegsende vor rund 70 Jahren der ständige Begleiter der Krefelder — vor den Bomben der Alliierten, aber ebenso vor dem blinden Wüten der menschenverachtenden Hitler-Anhänger.

Foto: Stadtarchiv

Krefeld. Es ist ein einzelner Soldat, der am 1. März 1945 nochmals einen entscheidenden Unterschied zwischen Leben und Tod macht. Längst geht in Hüls die Nachricht rum, dass die Amerikaner vor den Toren des Ortes stehen, als ein alliiertes Flugzeug die Stadt überfliegt. Der Soldat sitzt im Kirchturm und feuert mit seinem Gewehr. Es ist eine verzweifelte, eine sinnlose Tat. Der Flieger zieht unbeeindruckt vorbei, fliegt eine lange Kurve, kommt zurück und wirft als Antwort seine Bomben über Hüls ab. Noch einmal sterben Menschen, wie die 2001 verstorbene Hülserin Trude Kaltenmeier, damals 15 Jahre alt, später berichten wird. Völlig sinnlos wie so viele vor ihnen.

Es ist nur ein Beispiel dafür, wie sehr die Hitlerdiktatur und ihre Propaganda bis zur letzen Minute des Krieges nachwirken. Auch in Krefeld geht in jenen Tagen die Angst um — nicht nur vor den Kriegsgegnern, die mit großer Übermacht zum Rhein drängen.

Nach den drei verheerenden Luftangriffen zwischen Silvester 1944 und Ende Januar 1945 gibt es immer wieder Luftalarm. „Wir mussten immer zum Nachbarn ins übernächste Haus, um im Keller Schutz zu haben“, erinnert sich Rudolf Bienbeck heute an den Schrecken der letzten Kriegstage. Obwohl erst acht Jahre alt, gehört der Tod für ihn in jenen Tagen fast zum Alltag. „Ich wurde immer zum Bauern geschickt, um Milch zu holen“, berichtet er. „Auf der Straße kam mir ein Auto entgegen — und ein Tiefflieger griff an.“ Jemand rief „Deckung“ und Bienbeck springt vom Fahrrad und wirft sich in einen Graben. Als das Flugzeug wieder abdreht und der Achtjährige aus seinem Versteck kommt, ist er der einzige Überlebende des Angriffs. „Man hat dann versucht, nicht hinzuschauen“, sagt er heute über das traumatische Erlebnis.

Doch nicht nur vor den alliierten Angreifern ist die Furcht groß. Hitlers Durchhalteparolen und der Terror seiner Parteigänger hält bis in die letzen Stunden an. So rufen Oberbürgermeister Aloys Heuyng und Kreisleiter Erich Diestelkamp selbst die alten Männer zum Volkssturm. „Sie sollten dann treu die Wacht am Rhein bilden“, sagt Ingrid Schupetta von der NS-Dokumentationsstätte Villa Merländer. 1500 Mann stehen in den Listen, doch nur rund 600 folgen dem Aufruf. „Ein Onkel ist in den letzten Tagen noch eingezogen worden, um die Uerdinger Brücke zu verteidigen. Wir haben ihn nie wieder gesehen“, sagt eine 87-jährige Hülserin, die ihren Namen nicht öffentlich machen will.

Das System Hitler wirkt auch im Kleinen fort. Nach wie vor ist es gefährlich, Zweifel am Sieg Deutschlands zu äußern. In Hüls hatte der Vater von Rudolf Bienbeck die Plombe am Volksempfänger entfernt und das Gerät so umgebaut, dass er auch den britischen Sender BBC empfangen konnte. „Ein Nachbar belauschte ihn dabei und denunzierte ihn bei den Behörden“, erinnert sich Bienbeck. Es sind lebensgefährliche Anschuldigungen. Gerade in den letzten Kriegsmonaten wüten die Standgerichte von Polizei und SS. In den Schnellverfahren gegen Deserteure und Regimekritiker fällt fast immer ein Todesurteil. In Krefeld kommt es nach den verfügbaren Akten des Stadtarchivs zwar nicht zu solchen Fällen, doch wohl auch deshalb, weil die Menschen um die Gefahr wissen.

„Mein Vater war Anhänger der katholischen Zentrumspartei und konnte seinen Zorn auf Hitler nicht immer unterdrücken“, erzählt die 87-jährige Hülserin. „Meine Mutter hat ihn dann immer beschworen, ruhiger zu sein und hat schnell das Fenster geschlossen.“ Nur wenige Häuser weiter wohnte ein überzeugter SA-Mann. In ihrer Familie habe man gelernt, misstrauisch und vorsichtig zu sein. Spätestens seit ein Onkel, der als Priester arbeitet, wegen Regimekritik von der Gestapo verhaftet und in ein Konzentrationslager verschleppt wird, gibt es für die Familie nur noch eine Hoffnung: Dass sie bald von den Nazis befreit wird.