Die misshandelten Kinder von Fichtenhain
In Fichtenhain gab es von 1945 bis 1970 Fälle von Schwarzer Pädagogik. Dieses Kapitel hat der Landschaftsverband jetzt aufgearbeitet.
Krefeld, 1968: Matthias Richter wird in das Rheinische Landesjugendheim Fichtenhain eingewiesen (alle Namen von Beteiligten sind geändert). Bereits im Erstgespräch stellt der Erzieher Klaus Neuer dem Jugendlichen eindeutige Fragen zu sexuellen und homosexuellen Erfahrungen. Noch in der ersten Nacht kommt es zu einer ersten Kontaktaufnahme, die Matthias Richter abweisen kann. „Eine Woche später kam es zu ersten sexuellen Annäherungen seitens des Erziehers, die sich in der Folgezeit fortsetzten und immer intensiver wurden.“
Der Landschaftsverband Rheinland (LVR) arbeitet seine Vergangenheit auf: In einer Studie zur Schwarzen Pädagogik im Rheinland von 1945 bis 1970 werden Lebensbedingungen von Heimkindern in den Einrichtungen des LVR untersucht. Düstere Vermutungen werden durch die Studie des LVR zu schockierenden Tatsachen. „Man wusste, dass es damals eine harte Erziehungspraxis und Defizite in der Ausbildung der Erzieher gab“, sagt LVR-Pressereferent Christophe Göller. „Doch die Gesamtdramatik und die Zahl der Betroffenen war so nicht bekannt. Es gibt Geschichten, bei denen man mit Tränen in den Augen da sitzt.“
Auf mehr als 630 Seiten wird die Geschichte anhand von Akten aus dem LVR-Archiv sowie Berichten von Betroffenen aufgearbeitet. Darunter auch die Geschichte von Matthias Richter. Mehrere Monate wird der Jugendliche von Neuer missbraucht. Der Erzieher hatte „aufgrund seiner Machtposition ein Abhängigkeitsverhältnis aufgebaut, so dass es dem Junge lange unmöglich erschien, sich dagegen zu wehren oder es publik zu machen“, heißt es in der Studie. Schließlich vertraute er sich doch zwei anderen Jungen und einem Praktikanten an. Mittels Fotografien überführten sie Neuer. Er wurde im Februar 1969 festgenommen und fristlos entlassen. Was Matthias Richter widerfahren ist, ist jedoch — zumindest nach dem, was heute bekannt ist — nur ein Einzelfall.
„Sexueller Missbrauch und Vergewaltigung haben keine große Rolle gespielt“, sagt Christophe Göller. Das ist, sofern man das in diesem Zusammenhang überhaupt sagen kann, eine positive Überraschung. „Schockierend war vielmehr die Allumfassenheit des Kontrollregimes und wie wenig empathisch die Erziehung war“, sagt Göller. Klar ist: In den Heimen im Rheinland mussten die Kinder arbeiten, es gab Strafen und Missbrauch — und Schwarze Pädagogik.
Anlass für die Studie sind die seit Beginn der 2000er Jahre vermehrt aufkommenden Schilderungen ehemaliger Heimkinder über schlechte Bedingungen, Misshandlungen und Missbrauch. Auch beim LVR meldeten sich etwa 200 ehemalige Kinder — pro Jahr waren in allen Einrichtungen im Rheinland etwa 1000 Kinder untergebracht.
Rückblick: 1945 ziehen die ersten Jugendlichen nach dem Krieg in Fichtenhain ein. Die Gebäude sind zerstört. Die Zahl der Jugendlichen wächst rasch — Mitte April 1948 sind 248 in Fichtenhain untergebracht, das lediglich für 200 Bewohner konzipiert ist. Grund hierfür sind die Armut und Not vieler Familien nach dem Krieg, aber auch „die Überzeugung, dass gerade Jugendliche durch die außergewöhnlichen Notlagen der Zeit Gefahr laufen zu verwahrlosen“.
Grundsätzlich lässt sich festhalten, dass das Verständnis von Erziehung damals ein anderes war als heute. So wurden laut Göller auch Jugendliche in die Fürsorgeerziehung übergeben, die heute nicht mehr als „schwer erziehbar“ gelten würden. So formuliert die Studie die These, „dass die öffentliche Erziehung nach 1945 endgültig zu einem Sanktionsinstrument gegen Halbstarke wurde“.
Um die „missratenen“ Zöglinge in den Griff zu bekommen, waren deswegen auch Strafen bis 1970 ein gängiges Mittel zur Disziplinierung. „Die Erzieher bedienten sich in der Regel einer sehr eingeschränkten Auswahl erzieherischer Methoden, sahen sie doch die Jungen als ‚verwahrloste, kriminelle und nicht gesellschaftsfähige’ Zöglinge“, heißt es.
Die Erziehung war patriarchalisch geprägt, oft jedoch eher militärisch auf der Basis von Befehl und Gehorsam. Hier spielt auch hinein, dass die Heime nach dem Krieg überbelegt waren und die Erzieher schlecht bis gar nicht ausgebildet waren.
So wird beispielsweise Peter Meyer (Name geändert), von 1958 bis 1972 Erziehungsleiter in Fichtenhain, als autoritärer Pädagoge beschrieben, „der vor eingreifenden Handlungen gegen Jugendliche nicht zurückschreckte“. Ein Betroffener schildert in einem Interview für die Studie. „Ich habe also erlebt — selber daneben gestanden — wie der Erziehungsleiter Meyer seinerzeit, wie der ’nen Jungen durch ’ne dicke Glastüre geschlagen hat.“
Ein weiterer zentraler Baustein der Heimerziehung war Arbeit, die auch als Erziehungsmittel galt. Ziel war es, die „jungen Menschen zu einem anerkannten Mitglied der Gesellschaft zu formen“, heißt es. In Fichtenhain waren die Jugendlichen nach dem Krieg zunächst mit dem Wiederaufbau der zerstörten Gebäude beschäftigt. Zudem arbeiteten sie auf dem Gutshof in der Landwirtschaft. Ab 1949 gab es zudem Arbeitsmöglichkeiten als Schlosser, Schmied, Elektriker, Installateur, Schreiner sowie in anderen Berufen. Die Arbeitszeit war teilweise beträchtlich. So beschreibt der Direktor von Fichtenhain 1961 eine 43-Stunden-Arbeitswoche der Jugendlichen.
Nachdem die Ergebnisse der Studie nun auf dem Tisch liegen, stellt sich die Frage, wie es weitergeht. Es sei schon viel geschehen, sagt Göller. Beispielsweise habe man 2008 eine Hotline für Betroffene eingerichtet. Mit der Studie wollte der LVR zunächst Transparenz schaffen und sich der eigenen Verantwortung stellen. Inwieweit es Entschädigungszahlungen für die ehemaligen Heimkinder geben wird, ist derzeit noch nicht klar. Göller: „Im Moment sind wir schlicht nicht handlungsfähig.“
Zwar hat der Runde Tisch Heimerziehung vor wenigen Wochen vorgeschlagen, einen Entschädigungsfonds von 120 Millionen Euro für ehemalige Heimkinder einzurichten, doch eine politische Entscheidung steht noch aus. Der Abschlussbericht des Gremiums wird im Januar dem Bundestag übergeben.