Soziale Quartiersarbeit Herbertzstraße: Vom sozialen Brennpunkt zum guten Wohnen
Krefeld · Die Stadt stellte 1973 erstmals vier Sozialarbeiter nur für die Obdachlosensiedlung in Oppum ein – um Verhältnisse langfristig zu ändern Zwei von ihnen erinnern sich an die aufregende Zeit
Der Druck vor 50 Jahren auf die Verwaltungsspitze war hoch. 1973 feierte Krefeld 600 Jahre Stadtrechte mit zahlreichen bunten Veranstaltungen in der Stadt. Doch die hohe Obdachlosigkeit war den Verantwortlichen ein Dorn im Auge, die Obdachlosen-Siedlung an der Herbertzstraße hatte einen sehr schlechten Ruf. Seit den 1960er-Jahren wurden die dortigen sehr schlichten Wohnblocks von der Wohnstätte überwiegend an die Stadt zur Unterbringung von Obdachlosen und kinderreiche Familien vermietet. Familienfürsorge, Ordnungs- und Sozialamt wie auch Polizei waren häufig vor Ort. „Es musste etwas dagegen getan werden, es gab viel Ärger, für die 600-Jahr-Feier wurde viel Geld ausgegeben – und so entschloss sich die Verwaltung, gleich vier Jahrespraktikanten der Sozialarbeit auf einmal allein für die Herbertzstraße einzustellen“, erzählt Katharina Lüttkebohle. Sie war eine davon. Damit ging die Verwaltung in Krefeld neue Wege.
Sozialarbeiter schrieben erstes gemeinwesenorientiertes Konzept
Mehr als 50 Jahre später sitzen Katharina Lüttkebohle und ihr damaliger Teamkollege Manfred Bölkow im Konferenzraum der WZ, mit vielen alten Fotografien und noch mehr Geschichten von ihrer Arbeit. Zusammen mit Jürgen Hagedorn und Helmut Steinfeld hatten sie zusammen in Köln gelebt und Sozialarbeit kurz zuvor studiert. Gemeinsam hatten sie sich bei der Krefelder Familienfürsorge beworben - und waren prompt angestellt worden. „Wir hatten keinerlei Vorgaben von der damaligen Amtsleiterin“, sagt Lüttkebohle. „Und wir konnten unser eigenes Konzept für die Arbeit vor Ort entwickeln, gemeinwesenorientiert, bei dem wir alle Aspekte von Umfeld bis Strukturen mit einbezogen haben“, ergänzt Bölkow. Heutzutage gibt es eine Koordinierungsstelle für Gemeinwesenarbeit bei der Stadt; 1973 war das fast gelebte Utopie.
Ihr Konzept fußte auf einem Buch, das sie im Studium alle gelesen hatten: „Obdachlos – weil arm: gesellschaftliche Reaktionen auf die Armut“ von Ursula Christiansen. „Darin standen so kluge Sätze wie: ‚Obdachlose sind Experten für ihre Situation’“, erzählt Bölkow, „und nicht umgekehrt.“ Die jungen Sozialarbeiter nahmen die Aussage Ernst und verstanden sich in der praktischen Arbeit von da an als deren Anwalt.
„Es ging um ihre Rechte und Bedürfnisse ebenso wie um Jugendarbeit, die es zuvor nicht gab“, berichtet Lüttkebohle. Die Familienfürsorge war in der Siedlung verschrien. Kontrollierte sie bis dahin, was in den Schränken war und strich daraufhin die eh knappen Leistungen der Familien, fingen die Sozialarbeiter an, die Familien zu unterstützen. „Wir gingen nicht kontrollieren, sondern waren als Ansprechpartner mit einer täglichen offenen Sprechstunde in der letzten verbliebenen Baracke vor Ort für sie immer erreichbar“, sagt Lüttkebohle.
„Wir hatten bald mit allen anderen Ämtern Streit, weil wir es anders machen wollten als bislang“, sagt Bölkow. Die Verwaltung setzte ihnen den Beamten Leo Kretschmer „vor die Nase“. „Die dachten, der passt schon auf die auf, aber geschnitten“, erzählt Lüttkebohle und lacht heute noch herzhaft darüber. Denn mit Kretschmer fanden sie den Fünften im Bunde, der vor Ort die Situation für die obdachlosen Menschen, Familien, vor allem für die Kinder und Jugendlichen verbessern wollte. Bei ihm stießen sie auch auf offene Ohren, anstelle der Baracke ein soziales Zentrum zu bauen, dass die Offene Jugendarbeit, einen Kindergarten, einen Multifunktionsraum, einen Kraftraum und ein Büro für Beratung und Sprechstunden unter einem Dach bot. 1979 wurde es gebaut und das Jugendzentrum von da an von Karl Vogt geleitet.
„Die Wohnungen waren klein, es lebten teils zehn bis zwölf Personen auf 75 Quadratmetern“, erzählt Bölkow. Während Lüttkebohle für die Jugendarbeit zuständig war, kümmerte er sich um die Wohnsituation. Die Bewohner hatten Nutzungsverträge mit der Wohnstätte, keine Mietverträge. 200 bis 300 Wohneinheiten waren es zu Beginn. „Ich sollte ausführliche Berichte schreiben, ob eine Familie geeignet sei, in eine eigene, bessere und größere Wohnung umzuziehen“, so Bölkow. „Sie ist geeignet“, schrieb er in einem Satz. Nichts anderes war für ihn bei einer zehnköpfigen Familie zumutbar. Gemeinsam führten sie Bewohnerversammlungen ein, diskutierten darüber, was zu verbessern sei und bewogen die Wohnstätte dazu, die kleinen Wohnungen mit einer zweiten zu einer größeren zusammenzulegen. Nach fünf Jahren war Schluss mit ihrer Arbeit. Ein „neuer Amtsleiter wollte wieder mehr Kontrolle; ihm war unsere Sozialarbeit zu fortschrittlich“, sagt Lüttkebohle. Aufgehalten hat das den Wandel vom sozialen Brennpunkt zu einem besseren Wohnquartier nicht. „Das, was wir dort angestoßen haben, konnte nicht mehr zurückgedreht werden.“