Krefeld Jetzt ist Hilde Kramer depressiv

Knapp ein Drittel der Krefelder sind laut Studie von psychischen Erkrankungen betroffen. Die WZ startet eine Informationsreihe.

Foto: Dirk Jochmann

Krefeld. „Ich liebe Menschen“, sagt Hilde Kramer (Name geändert). Nur sich selbst konnte die 68-Jährige irgendwann nicht mehr lieben . . .

Sie ist frustriert, enttäuscht, gekränkt — am meisten durch sich selbst. Doch beim Namen habe sie diesen Gemütszustand lange nicht genannt. Seit Jahren leidet Hilde Kramer an einer Depression.

Wie es dazu kommen konnte? Die Frage hat sich die 68-jährige Frau aus Krefeld in vielen schlaflosen Nächten gestellt. „Ich habe nie über die schlimmen Erlebnisse in meinem Leben getrauert. Dabei haben sie in meinem Inneren einen Raum eingenommen, der immer größer wurde und tiefere Wunden hinterlassen, als ich wahrhaben wollte.“ Über diese Erlebnisse zu sprechen fällt Hilde Kramer schwer. Sie redet langsam, wählt ihre Worte bedacht. Unterbricht sich dann selbst, fängt von neuem an. Die adrett mit Blazer und Bluse gekleidete Dame will auf keinen Fall die Fassung verlieren.

Als Jugendliche habe sie körperliche Gewalt durch ihren Vater erfahren. Dann, im Alter von fast 60 Jahren, der sexuelle Missbrauch durch ihren neuen Partner. „Ich war sprachlos, genauso wie damals als junges Mädchen ausgeliefert.“ Nicht den Männern, sich selbst habe sie Vorwürfe gemacht, sagt Hilde Kramer. „Warum habe ich mich nicht zur Wehr gesetzt? Warum habe ich das zugelassen?“ — die Fragen quälen sie. „Ich habe schon so viel erlebt, damit muss ich selbst klarkommen“, sei lange ihre Antwort darauf gewesen. Schwäche zulassen? Das kam für die 68-Jährige nicht in Frage.

Denn Hilde Kramer ist eine starke Frau. Jahrelang gibt sie Management-Seminare für Führungskräfte — ihr Traumjob. „Ich habe mein Leben lang anderen einen Weg aufgezeigt, aber bei mir selbst war ich dazu auf einmal nicht mehr in der Lage.“ Hilde Kramer schläft kaum noch, kann sich nicht mehr konzentrieren, von ihrer Arbeit, die ihr immer großen Spaß gemacht hat, ist sie plötzlich überfordert. Die 68-Jährige verlässt ihr Haus kaum noch, „höchstens zum Einkaufen, frühmorgens, damit mich bloß niemand sieht. Ich habe mich komplett zurückgezogen, zuhause eingemauert.“

Dort läuft den ganzen Tag der Fernseher. Das Telefon ist über Monate ausgeschaltet. Hilde Kramer ist nicht mehr sie selbst. „Ich habe mir neun Monate lang nicht die Haare gewaschen.“ Alles, was sie ausmacht — „meine Neugier, die Wissbegierig- und Begeisterungsfähigkeit“ — ist nicht mehr da. „Ich hätte es nicht für möglich gehalten, dass die schlimmen Erlebnisse in meinem Leben unter der Oberfläche so viel Macht gewinnen, um mich zum Stillstand zu bringen.“ In den dunkelsten Zeiten denkt Hilde Kramer an Selbstmord: „Es hat Phasen gegeben, da habe ich mir sehr genau überlegt, wie ich aus der ersten Etage nach unten komme, ohne es zu überleben“, sagt sie.

Dass sie Hilfe brauche, habe sie „immer mal wieder gemerkt“. Doch die Angst, sich mit der Vergangenheit zu beschäftigen habe sie immer wieder davon abgehalten, sich welche zu suchen. Bis zum vergangenen Herbst. Da fasst Hilde Kramer endlich den Entschluss, sich behandeln zu lassen. Zur stationären Therapie geht sie auf die psychiatrische Station des Maria-Hilf Krankenhauses.

Dort lernt sie, wieder „auf das zuzugreifen, was mich ausmacht: meine Kontaktfähigkeit, meinen Humor, meine Mitmenschlichkeit“. Heute, sagt Hilde Kramer, schlage sie sich nicht mehr sofort ans Kreuz. „Es ist okay, wenn ich Schwäche zeige oder etwas nicht schaffe.“ Auch, wenn noch ein langer Weg vor ihr werde, um wieder gesund zu werden — „heute habe ich wieder richtig Lust, etwas zu machen“. Am liebsten mit Menschen.