Fabrik Heeder: Die Wichtigkeit des Vergessens
Am Dienstag wird das Stück „Joey Blueglass“ wieder aufgenommen. Es ist eine Geschichte um das Erinnerungsvermögen.
Krefeld. In den USA gibt es eine Frau mit phänomenalem Gedächtnis. An welcher Stelle sie ihr Auto beim Einkaufsbummel vor einem halben Jahr geparkt hat, weiß sie noch ganz genau. Die Frau erinnert sich auch daran, wie sie Ostern vor acht Jahren verbracht hat. Mediziner sprechen vom „Krankheitsbild einer zu guten Erinnerung“.
Joey Blueglass geht es ähnlich. Im Stadttheater werden mit dem gleichnamigen Stück, das am Dienstag Wiederaufnahme feiert, die Themen Vergessen und Erinnern aufgegriffen. „Mich hat der Roman ,Joey Blueglass’ von Chris Wilson gepackt“, erklärt Schauspieler Daniel Minetti, der das Ein-Personen-Stück inszeniert.
Er berichtet auch von Albert Camus’ „Der Fall“, in dem die Hauptfigur erklärt: „Ich kann vergeben, aber nicht vergessen.“ Vergessen werde heute in Verbindung von Demenz häufig nur als Makel angesehen, findet Minetti. Im Stück ist das anders: Joeys neuer Ziehvater und selbsternannter Arbeitgeber John Rivers sieht in dem Nicht-Vergessen-Können des Jungen eine lukrative Kapitalanlage. Er bildet ihn im Gaunern und Betrügen aus. „Es ist eine sowohl nachdenklich stimmende als auch unterhaltsame Geschichte.“
„Vergessen bedeutet Verlust von Erinnerung“, sagt Diplom-Psychologin Annabell Ribbe von der Klinik Königshof. „Menschen vergessen über die Zeit hinweg kontinuierlich, wobei der Umfang des Vergessens von vielen Faktoren abhängig ist, wie beispielsweise vom Interesse für die Erinnerung, ihrer Wichtigkeit oder davon, ob sie an eine Emotion gebunden ist.“
Im Altgriechischen werde Vergessen als Verneinung der Erinnerung, amnesia, aufgefasst. Dementsprechend könne Vergessen vielleicht auch als „Unwillen, sich zu erinnern“ bezeichnet werden, denn rein physisch betrachtet sei Vergessen rätselhaft. Ribbe: „Schließlich verfügen wir über mehr als 100 Milliarden Gehirnzellen, die uns das Erinnern oder das Nicht-Vergessen erleichtern sollten. Es muss also einen anderen Grund geben, warum wir vergessen.“
In der modernen Hirnforschung werde die Fähigkeit zu vergessen als essentielle Grundfunktion des menschlichen Gedächtnisses verstanden, da Vergessen hilft, unnütze Information loszulassen und Speicherplatz für Wichtiges zu reservieren. „Deswegen wird seitens der Hirnforschung sogar zum absichtlichen Vergessen geraten.“
Aus psychologischer Sicht könnte nicht nur das Vergessen von unwichtigen Informationen, sondern auch das Vergessen von negativen Erinnerungen Vorteile mit sich bringen. Untersuchungen haben gezeigt, dass psychisch gesunde Menschen die Neigung haben, sich häufiger an positive Erlebnisse zu erinnern als an negative. Demnach könnten die Prozesse des selektiven Erinnerns und Vergessens, beim Menschen zu mehr Zufriedenheit mit sich selbst und seinen Entscheidungen führen.