„Ich konnte die Zelle nicht ertragen“
Dogan Akhanli liest am kommenden Montag um 19 Uhr in der Volkshochschule aus seinem Buch „Verhaftung in Granada“.
Der Schriftsteller Dogan Akhanli liest am Montag, 2. Juli, in der Volkshochschule aus seinem Buch „Verhaftung in Granada“. Im WZ-Interview spricht er über die Geschichte seiner jahrzehntelangen Verfolgung.
Herr Akhanli, Ihre Familie kommt aus der Türkei, Sie sind dort aufgewachsen, bevor Sie 1991 nach Deutschland ins politische Asyl gegangen sind. Wie stehen Sie heute zur Türkei und ihren politischen Veränderungen?
Dogan Akhanli: Erdogan, der nach 2005 zunächst den Eindruck erweckte, ein Reformer zu sein, hat im Jahre 2013, während der „Gezi-Bewegung“, begonnen, Merkmale typischer faschistischer Diktatoren der 30er-Jahre anzunehmen. Und der Putschversuch vom 15. Juli 2016 hat ihn scheinbar legitimiert, seine Regierungsweise zu festigen.
Mit weitreichenden Folgen.
Akhanli: Innerhalb eines Jahres stieg die Türkei zu dem Land mit den meisten inhaftierten Journalisten und Schriftstellern weltweit auf. In kürzester Zeit wurden Tausende Menschen verhaftet und Abertausende aus ihren Ämtern entlassen. Er will offensichtlich Alleinherrscher sein. Sein Palast mit 1000 Zimmern. Seine gigantischen Bauprojekte. Peinlichkeiten wie die Tatsache, dass er seine Staatsgäste mit Märschen von Militärkapellen der Janitscharen, der Leibwache der osmanischen Sultane, empfängt, mit Soldaten, die verkleidet sind wie im Kölner Karneval und die 16 plündernden Staaten in der Geschichte symbolisieren sollen. Wie er politisch agiert, erinnert an Mussolini. Das ist nicht von der Hand zu weisen. Die Phase des Militärregimes 1980 war von systematischer Folter geprägt, in der Erdogan-Ära hingegen herrscht die Willkür eines Justizsystems. Sie kann nicht nur Linksoppositionellen, sondern jedermann zum Verhängnis werden. Aktuell zählen Menschenrechtsorganisationen über 80 000 politische Gefangene.
Als politischer Häftling ist Ihnen schon in den 1980er Jahren viel Leid widerfahren, hat die Verhaftung in Granada alte Wunden wieder aufgerissen?
Akhanli: Fast. Ich konnte die Zelle, in der ich eingesperrt wurde, nicht ertragen. Mir war dort ständig übel, und dies hat mit meiner Vergangenheit zu tun. Das Zeitgefühl kam durcheinander. Die Zeitverschiebungen und Zeitkrümmungen waren enorm. In meinem Buch habe ich über meine Wahrnehmung der Zeit geschrieben.
Wenn Sie den Inhalt Ihres Buches mit einem Satz beschreiben müssten, wie würde der lauten?
Akhanli: Zeitkrümmung oder die Hoffnung stirbt zuletzt!
Dogan Akhanli, Schriftsteller
Ihr Buch „Verhaftung in Granada“ beschreibt genau die Torturen, die Ihnen in der Haft widerfahren sind. Wie geht es Ihnen und Ihrer Familie damit?
Akhanli: Die kafkaeske Verfolgung der türkischen Regierung ist gescheitert, und es geht mir gut. Ich bin ein bekannter Schriftsteller geworden und durfte das Buch „Verhaftung in Granada“ schreiben, das mein erfolgreichstes Buch ist. Mein wichtigster Gewinn entstand aber im privaten Bereich: Ich war in der Inszenierung von Nuran David Calis im Schauspiel Köln als „Schauspieler“ tätig. Ich berichtete darin unter anderem von den Folterungen in türkischen Gefängnissen. Und über Schuldgefühle in Bezug auf meinem Sohn. Ich durfte Spanien nicht verlassen, und mein Sohn hat dann meine Rolle übernommen. Unsere Beziehung ist enger geworden. Ich kann mit meinen Kindern über alles offener sprechen, und dies macht mich glücklich. Und nun wissen meine Kinder ganz genau, wer ich bin.
Hätten Sie sich aus Deutschland ein anderes Verhalten oder mehr Hilfe gewünscht?
Akhanli: Ich habe eine hervorragende politische, persönliche und kollegiale Solidarität erlebt. Mein Fall wurde öffentlich diskutiert. Alle deutschsprachigen Medien berichteten über meine Verhaftung. Sogar Bundeskanzlerin Angela Merkel äußerte sich, dass die Türkei Interpol missbraucht hat.
Was dachten Sie während der Haft in Granada? Hatten Sie Angst vor einer möglichen Auslieferung und den damit verbundenen Konsequenzen? Zeigen Sie Unverständnis gegenüber der spanischen Justiz?
Akhanli: Es war mir als deutscher Staatsbürger bewusst, dass mich ein Mitgliedsland der EU nicht an die Türkei ausliefern würde. Da war ich ziemlich sicher. Oder vielleicht habe ich die Gefahr, einer Auslieferung an die Türkei, ausgeblendet. Die Ablehnung der Auslieferung kam allerdings ziemlich spät. Dennoch war sie eine wichtige politische Entscheidung, weil der spanische Ministerrat das Auslieferungsverfahren selbst stoppte und die Entscheidung nicht der Justiz überließ. Das war am Ende ein Zeichen, dass es in Europa für willkürliche Haftbefehle und Auslieferungsanträge keinen Platz gibt.
Präsident Erdogan wurde wiedergewählt und hat jetzt noch mehr Macht. Mit welchen Folgen für die Türkei rechnen Sie?
Akhanli: Bei den Wahlen hat der ländliche Teil für Erdogan und die Ultranationalisten gestimmt, weil sie mit einem laizistischen Staat (strenge Trennung zwischen Staat und Religion, Anmerkung der Redaktion) Probleme haben und weil sie die Identität der Kurden nicht akzeptieren wollen. Ohne die Rechte der kurdischen Bevölkerung anzuerkennen, bleibt das Problem der Türkei bestehen.
Sie behandeln Völkermorde des 20. Jahrhunderts, wie zum Beispiel in ihrem Buch „Tag des jüngsten Gerichts“ zur Armenien-Resolution. Warum diese Thematik?
Akhanli: Es hatte mit meiner Biografie, meiner Gewalterfahrung zu tun. Dass ich Gewalterfahrung hatte, gefoltert wurde, verfolgt wurde, war der Grund, warum ich mich mit dem Genozid an den Armeniern beschäftigt habe. Für mich war es eine revolutionäre Entdeckung, dass ich nicht das einzige Opfer der Gewaltgeschichte der Türkei bin, wir Linken sind nicht die einzigen Opfer. Ich bin hier anderen Opfergruppen begegnet. Ich habe Aleviten, Kurden und Armenier mit ihren Geschichten kennen gelernt. Und da war die Frage, was hat meine Gewalterfahrung mit der Gewalterfahrung der Armenier vor 100 Jahren zu tun? Ich hatte nur gespürt, dass es eine Verbindung zwischen meiner Gewalterfahrung und der Gewalterfahrung der Armenier gibt, aber was es für Unterschiede und welche Verbindungen es gibt, dafür musste ich diese Trilogie schreiben. Vielleicht konnte ich damals nicht so eine klare Antwort geben, wie ich das heute kann, aber ich hatte den Unterschied verstanden, hab’ den Unterschied auch gespürt, dass Armenier anderes erlebt haben. Sie haben grenzlose Willkür erlebt. Ich war während der Militärzeit politisch aktiv. Keiner hat mich gezwungen, politisch aktiv zu sein. Ich wusste, dass man mich foltert, wenn man mich festnimmt. Trotzdem habe ich weiter agiert. Nach meiner Festnahme wurde ich dann tatsächlich gefoltert. Ich hatte aber die Chance, das Land zu verlassen oder einfach aufzuhören, politisch zu kämpfen. Die Opfer des Genozides hatten keine Chance. Sie gehörten zu einer Gruppe, die kollektiv zum Tode verurteil wurde.
Auch in Deutschland ist das Thema Völkermord geschichtlich verankert. Planen Sie, den Holocaust zukünftig in einem Ihrer Bücher zu thematisieren?
Akhanli: Ich habe den Holocaust in meinem Roman „Der letzte Traum der Madonna“ schon thematisiert. Das Buch ist leider nicht auf Deutsch erschienen, obwohl der Roman von türkischen Kritikern 2005 zu einem der zehn besten des Jahres gekürt wurde. Als ich mich Ende der 1990er Jahre mit der NS-Geschichte Deutschlands vertraut machte, erfuhr von der Geschichte eines Flüchtlingsschiffes, das am 24. Februar 1942 im Schwarzen Meer versenkt wurde. Als das Flüchtlingsschiff „Struma“ im Dezember 1941 Constanta in Rumänien verlassen hat, besetzte Nazi-Deutschland fast das gesamte Europa. An Bord des Schiffes befanden sich 791 jüdische Flüchtlinge aus den Ländern Europas. Kurz vor der Ankunft versagte die Maschine komplett den Dienst, und das Schiff musste von einem Schlepper in den Hafen von Istanbul gezogen werden. Großbritannien weigerte sich, die „Struma“ nach Palästina zu lassen. Rumänien wollte sie auch nicht zurückhaben. Die USA hielten sich ganz heraus. Und die Türkei, noch neutral, wollte es sich mit keinem verderben und verweigerte einen Landgang ebenfalls. Ein sowjetisches U-Boot hatte am 24. Februar 1942 einen Torpedo auf sie abgefeuert. Hintergrund war ein Geheimbefehl Stalins, alle neutralen Schiffe, die das Schwarze Meer befuhren, zu versenken. Die Geschichte von Struma zeigte mir, dass die Vernichtung der europäischen Juden eine transnationale Geschichte ist. Holocaust war eine ultimative überdimensionale Gewalt, und nach meiner Ansicht kann dies innerhalb der Nation, innerhalb der deutschen Grenzen, nicht aufgearbeitet werden. Es muss ein europäischer Erinnerungsraum geschaffen werden mit Bezug zum Kolonialismus und der genoziden Erfahrung des 20. Jahrhunderts.