Tanz NRW Jüdisch-Orthodoxe Lebenswelten in Tanz gefasst
Krefeld · In der Choreografie „Atara“ von Reut Shemesh spiegelt sich das mit Regeln beladene Leben chassidischer beziehungsweise orthodoxer Frauen wieder.
Im Rahmen von Tanz NRW, das auch in der Fabrik Heeder Station macht und machte, gibt es herausragende Produktionen aus der Sphäre des zeitgenössischen Tanzes zu erleben. Eine dieser besonderen ästhetischen Auseinandersetzungen mit Themen, die sich durch Bewegung und Tanz auf eine künstlerische Ebene heben lassen, ist „Atara – For you, who not yet found the one“ von Reut Shemesch.
Ein hochkonzentriertes Kabinettstück, das sich um die Lebenswirklichkeit von orthodoxen jüdischen Frauen dreht, aber zugleich um das Ausbrechen, Bestätigen, In-Frage-Stellen oder auch Reflektieren von Normen, Regeln und Emotionen, die mit Rahmenbedingungen dieser Lebensweise assoziierbar sind. Kurz: „Atara“ stellt vielmehr eine Seelenstudie dar, die sich zwar auch äußerlich mit dem Thema befasst und es auf poetische Weise spiegelnd in eine berührend minimalistische Choreografie fügt, aber schlussendlich eine in Bewegung gesetzte Innensicht ist.
Ein Moment bleibt lange in Erinnerung
Die beiden Performerinnen Hella Immler und Tsipora Nir, die beide auf ihre Weise eine einnehmend charismatische Bühnenpräsenz haben und auch ihr männliches Pandant Florian Patschovsky, in strenger Kleidung, mit Röcken und bedeckten Schultern, tragen Perücken. Eine Tradition bei verheirateten orthodoxen Jüdinnen. Sie spielen bei ihren Bewegungen mit Kontrolle, Selbstkontrolle, dem eingeschränkten Radius der Entfaltung. Die Arme stehen seitlich im Winkel, die Figuren wirken nahezu wie Marionetten, Marionetten einer größeren Macht, die sie lenkt. Doch gelingt es der Choreografie gerade durch subtile Nuancen zu verdeutlichen, dass diese Einschränkungen, wenn sie denn welche sind, von innen kommen. Doch und dennoch – und das ist sehr zentral – spielt Shemesh mit der Zweischneidigkeit von Haltung und Würde, die sich zugleich in Entwürdigung und Enthaltung umkehren kann. Nicht selten brechen Normen auf, entlädt sich verschämte Selbstreflektion schließlich sogar in ekstatische Ausgelassenheit. So wird kraftvoll getanzt, gewirbelt, schwungvoll. Die Grenzen zwischen chassidischer Folklore, einer ritualisierten Bewegung, emotionaler Entäußerung und dem Aufbrechen dessen verschwimmen. Berührungen werden vereitelt, Begierde zeigt sich in höchster Spannung, kann sich aber trotz liebevoller Annäherung nicht entladen. Doch dabei bezieht sich diese Performance nicht nur auf die körperlichen Regeln und auch vielleicht Vorurteile gegenüber chassidischer Jüdinnen, deren Leben von vielen Traditionen geprägt ist, sondern bezieht auch das Wort, das Gespräch, mit ein. Shemesh führte Gespräche mit Frauen, lässt dies mit in das Gesamtkonzept einfließen. Besonders berührend und zentral ist das Versagen von Worten angesichts der Schicksalhaftigkeit mancher Lebenssituation.
Das Werk kulminiert in einem Moment, der lange in Erinnerung bleibt. Die Performer entkleiden sich von ihren Perücken und Röcken, symbolhaft ein Ablegen der Tradition vielleicht, der Konformität, die aber frappierende Kraft erhält, durch ein kleines aber wichtiges Detail. Man tauscht die Perücken und Röcke miteinander. Dies kann, muss aber nicht, für die Übermacht der äußeren Ordnung stehen, die den Menschen hinter der Tradition austauschbar macht. Dennoch hat dieses Werk nichts Aggressives, wenngleich es Momente voller Leid und Verzweiflung gibt. Etwa Gesang, begleitet von sinnentlehrtem Stönen, ein Aufschrei. Vielmehr wirken die harten, kraftvollen Momente mehr wie ein Flehen nach Harmonie, indes unterbrochen von nicht selten perkussivem Sound aufgeladen mit harten Rhythmen. Auf die vor der Performance gezeigten Fotografien jedoch, die eigentlich einstimmen sollten, hätte man auch verzichten können, wenngleich sie stimmungsvoll komponierte Genre-Bilder sind. Shemesh ist nicht nur Choreografin, sondern auch im Bereich des Experimentalfilms und sogar der Poesie bewandert – was sich in den Sprache der Performance anschaulich wiederfand.
Doch die pure Kraft der Performance, über der übrigens stets ein Licht-Dreieck hing, sprach schon alleine ohne den weiteren Rahmen für sich.