Will Cassel - der alte Mann und das Zirkuskind
Bis zum letzten Akt seines Welttheaters bleibt der Künstler ein nachdenklicher Schelm. Gelassen blickt er zurück auf sein bewegtes Leben — und hat keine Angst vor dem Tod.
Krefeld. In manchen Momenten wird der 86-jährige Mann mit den langen grauen Haaren wieder zum Kind. In seiner Hand hält er ein hölzernes Kasperletheater, kaum größer als eine Zigarettenschachtel. Mit einem Hebel bewegt er die Figuren rhythmisch hin und her. „Die sind sich immer am kloppen“, sagt Will Cassel mit schelmischem Grinsen. „Gibt es ein besseres Bild für das, was aktuell in der Welt passiert?“
Das Große im Kleinen zu entdecken, die Rätsel der Existenz herunterzubrechen auf Puppentheater und Zirkuszelt, auf Blumen, Bäume oder jene Gartenzwerge, die ihn seinerzeit bundesweit bekannt machten, das ist die Konstante im Schaffen des Künstlers Cassel. „Die Welt ist ein Gewächshaus“ heißt passend dazu seine nächste Ausstellung, die im August beginnt.
Noch immer stellt er mit seiner Frau Siegrun bis zu drei Präsentationen pro Jahr auf die Beine, alle im Buschhüter-Haus am Kuhdyk, das für die beiden Wohnung, Galerie und Museum in einem ist. Cassel war stets ein produktiver Künstler, sein Oevre umfasst tausende von Zeichnungen, Gemälden und Skulpturen. Auch im hohen Alter lässt er nicht nach: „So lange ich denken kann, werde ich malen.“
Jeden Tag nach dem Mittagsschlaf arbeitet Will Cassel in seinem Atelier, das er Werkstatt nennt, so wie es ein Handwerker tun würde. Dort zeichnet er, collagiert, malt Aquarelle, drückt Wachspartikel in die Leinwand. „Die Enkaustik, eine der ältesten Techniken überhaupt“, erklärt er. „Die Ägypter haben damit ihre Mumienporträts gefertigt.“ Für seine alten Finger ist die Arbeit anstrengend, doch aufzugeben käme ihm nicht in den Sinn: „Wenn du etwas tust, das dir Spaß macht, merkst du nicht, wie die Zeit vergeht.“
Cassel ist diszipliniert, „das ist der Beamtensohn in mir“, seine Tage sind klar strukturiert. Er frühstückt, kleidet sich ganz in Schwarz, fährt mit dem Bus in die Innenstadt, trinkt Kaffee, redet mit Leuten, fährt zum Mittagessen zurück. „Ich brauche jeden Tag Stadtluft“, sagt Cassel, der sonst fast einen Hektar pure Natur um sich herum hat.
Jedes Bild beginnt bei ihm im Kopf, als Sammlung von Eindrücken, Beobachtungen und Gedanken, Philosophie, Poesie und Nachrichtenbildern. Cassels Vorbild ist Leonardo da Vinci, der Maler als Denker, Schriftsteller und Forscher. Er nimmt sich die Freiheit, Strömungen zu widerstehen und nur sich selbst treu zu bleiben: „Im Grunde bin ich ein Einzelgänger.“
Schon als Siebenjähriger erklomm Cassel täglich die zwei Stufen des Schulpults in seinem Kinderzimmer, um zu zeichnen und Gedichte zu schreiben. „Meine Hefte waren immer rundherum bemalt. Aber die Lehrerin hat es toleriert.“
Wilhelm Georg Cassel, geboren 1927 in Dortmund als Sohn eines Polizisten und 1934 nach Krefeld übergesiedelt, war ein kränkliches Kind. Ein Augenleiden fesselte ihn monatelang blind ans Bett, Bronchialasthma machte das Atmen zur Qual. Als er beides überwunden hatte, wurde er mit 16 Jahren eingezogen, kämpfte ab 1943 an der Ostfront. Wie viele seiner Generation verfolgen ihn die Bilder bis heute.
Als der Krieg vorbei war, gelang es ihm mit Witz und Bauernschläue, sich bis nach Kassel durchzuschlagen, „in meine Namensstadt“. Zurück in Krefeld besuchte er ab 1948 die Werkkunstschule, davor stand eine Lehre als Schaufensterdekorateur. In diesem Beruf hat er später auch gearbeitet, außerdem als Werbegrafiker und Dozent. Will und Siegrun Cassel haben vier Kinder. Von der Kunst leben konnten sie erst viel später.
Die Nachkriegswerke, abstrakt und ohne die überbordende Farbigkeit seiner heutigen Arbeiten, zeigen einen Künstler auf der Suche. Obwohl er bereits 1962 den Kunstpreis des Niederrheins erhielt, kam der Durchbruch erst gegen Ende der 60er-Jahre — mit den Gartenzwergen.
Tausende der bemützten Gesellen hat Cassel in den Jahren bemalt, umgestülpt, zerbrochen, aufgereiht und zu Armeen formiert. Der Zwerg wurde für ihn zur politischen Figur, zum Symbol im Kampf gegen Bevormundung und Umweltzerstörung. Es waren die politischen Jahre des Künstlers Cassel, seine Aktionen führten in bis vor das Weiße Haus und das UN-Hauptquartier, ins Polizeigewahrsam und ins Nachrichtenmagazin „Der Spiegel“. „Der Zwerg ist das Wichtigste“, sagt Cassel heute. „Aber viele begreifen nicht, warum.“
Wer ihn kennt, weiß, dass der Zwerg, der Zirkus und das Welttheater mehr sind als kindische Spielereien. Auch die drei silbernen Taschenuhren, die Cassel seit 40 Jahren um den Hals trägt, sind kein Ausdruck von Kauzigkeit. Er vergleicht sie mit der berühmten Zeichnung aus „Der kleine Prinz“, die Schlange, die einen Elefanten verdaut. „Antoine de Saint-Exupéry hat sie Gesprächspartnern gern gezeigt — wenn sein Gegenüber verstand, lohnte sich das Weiterreden.“
Der späte Will Cassel hat sich von der Weltbühne zurückgezogen, er malt wieder Dinge, die auch dem Jungen am Schulpult gefallen hätten: Natur und Landschaft, verknüpft mit melancholischen Gedanken. „Es geht auf den Abschied zu“, sagt er. „Wenn du einen Garten hast, weißt du, wie wichtig der Kompost ist. Da will ich landen: auf dem Kompost.“ Ob seine Kunst seinen Tod überdauert, sei ihm egal, sagt er: „Ich habe gelebt und meine Arbeit getan. Wer weiß, auf welchem Speicher meine Bilder später stehen?“
Viele dieser Bilder zeigen eine alte Weide, die Jahrzehnte lang in Cassels Garten stand. Sie war sein Lieblingsbaum, steter Begleiter und ewige Inspiration. Vor einigen Wochen hat der Sturm sie umgeknickt.