Nachtwächter in Linn: Eintauchen in eine mittelalterliche Welt

Mit dem Nachtwächter geht es für die Mitglieder von Creinvelt auf historischen Spuren durch den Stadtteil.

Foto: Bischof

Krefeld. Enge gepflasterte Gassen im dunklen Schein der Laternen, schiefe Fachwerkhäuser, die sich gegenseitig vor dem Umfallen schützen. Wer bei Dunkelheit den historischen Stadtteil Linn betritt, vorbei an der Silhouette der Burg im fahlen Lichterschein, ist schnell gefangen von der mittelalterlichen Atmosphäre. Da verwundert es kaum noch, wenn Nachtwächter Heinz-Peter Beurskens im schwarzen Umhang und Dreispitz mit Hellebarde und Laterne seinen Auftritt zelebriert.

Vor dem Restaurant „Op de Trapp“ an der Rheinbabenstraße lässt er die Mitglieder der Brauchtumsgesellschaft Creinvelt antreten. Sie werden Zeugen einer strengen Zeit, in der es bisweilen auch blutrünstig zuging. Creinvelt-Vorsitzender Wilhelm Havermann und Rainer Schulte müssen selbst an den Pranger und sich von ihm befreien, bevor sie von Beurskens als Helfer vergattert und eingekleidet werden. Erst dann dürfen sie sich vor dem dreistündigen Rundgang in der gemütlichen Gaststätte stärken.

Doch schon bald drängt der Nachtwächter per Horn zum Aufbruch. Havermann berichtet, dass die rein männlich besetzte Gesellschaft dreimal im Jahr historische Orte besucht und bei der Tour auch die Frauen mitkommen dürfen.

Die Gruppe aus rund 25 Teilnehmern erlebt einen kurzweiligen geschichtsträchtigen Abend. Beurskens, pensionierter Leiter des Fachbereichs Gesundheit und Sport und eingefleischter Linner, ist ein wandelndes Buch aus lustigen und gruseligen Anekdoten.

So lässt er seine Gäste an Hauswand- und Stadtmauermarkierungen miterleben, dass das Hochwasser anno 1784 im tiefsten Ortsteil Krefelds (nicht Uerdingen!) mannshoch stand. Die Linner dankten den Krefeldern, die mit Booten und Brot geholfen hatten. Dass die Uerdinger den Kölner Kurfürsten davon überzeugten, dass sie und nicht die reichen Linner einen geldbringenden Hafen am Rhein bauen durften, nehmen die Linner noch heute übel. „Die Krefelder wären heute sonst alle Linner“, so Beurskens. Er lässt außerdem keine Gelegenheit aus, die belächelten Oppumer in seinen Geschichten alt aussehen zu lassen.

Wenn der Nachtwächter bis zu dreimal wöchentlich durch die Gassen zieht, verschließen einige Bewohner zum Schutz vor neugierigen Blicken die Fensterläden, andere lassen sich auf das Spektakel ein und spielen sogar mit. Einer davon ist Jens Schwarzer, der allein das „Hexenhäuschen“ in der Margaretenstraße bewohnt und die Gruppe sogar seine Räume inspizieren lässt.

Zu verdanken haben die Gäste dies Creinvelt-Mitglied Franz-Josef von der Hocht. Der Malermeister ist Besitzer des Fachwerkhauses, das er 1986 in abbruchreifem Zustand gekauft hat, um es „für meine Vaterstadt zu erhalten“. „Spaziergänger klingeln gelegentlich und bitten um Zutritt“, sagt Schwarzer lachend. An einer Station in der Issumer Straße öffnet sich plötzlich ein Fenster und eine mit Nachthaube bekleidete Frau schüttet eine Schüssel aus, um sogleich in einen mundartlichen Disput mit dem Nachtwächter zu verfallen. Einige Häuser weiter — nach einer Anekdote über den schläfrigen Dorfpolizisten — öffnet ein ehemaliger Polizeibeamter im Nachtgewand mit Pickelhaube die Tür.

Auch von der Architektur bekommt die Gruppe einiges mit: von bergischem und schwäbischem Fachwerk und zum Teil noch heute zugemauerten Fenstern, weil der Kurfürst die Steuer nach Fenstergröße berechnete. Auch dass es lange nur stinkende Klärgruben im Garten, aber kein Abwassersystem in Linn gab. Und dass sich Katholiken und Protestanten gegenseitig damit ärgerten, die Gruben an Festtagen der Andersgläubigen zu leeren und vor der Prozession mit den Fäkalien herfuhren.

Lehrreiches wechselt mit schaurig schönen Anekdoten. So sollen die Linner Wirte von Gehängten am Richtplatz die Daumen abgeschnitten und ins Bier geworfen haben, um den Umsatz zu erhöhen. Auch Hexenprozesse waren an der Tagesordnung und ein Bürgermeister wurde wegen Holzdiebstahls verurteilt.

Einen Höhepunkt auf dem Burgplatz stellte beim Rundgang eine Übung der historischen Feuerwehr dar. Die Creinvelter mussten unter militärischen Kommandos eine Löschkette mit Wassereimern bilden und hatten Glück, dass die handbetriebene schwergängige Spritzenpumpe defekt war.