Lage in Krefeld 40 Prozent mehr Kinder sind zu Hause akut in Gefahr

Krefeld · Die Leiterin der städtischen Jugendhilfe spricht über die Arbeit des Teams Kindeswohl Krefeld und die Zunahme von Meldungen, denen die Mitarbeiter einzeln nachgehen.

Die Leiterin der Jugendhilfe Krefeld, Sonja Pommeranz, spricht über ihre Arbeit zum Schutz der Kinder.

Foto: Bischof/Andreas Bischof

Frau Pommeranz, die bekannt gewordenen schweren Missbrauchsfälle von Bergisch Gladbach und Lüdge ebenso wie die aktuellen Zahlen des Landesamtes für Datenverarbeitung und Statistik lassen erkennen, dass das Kindeswohl zunehmend gefährdet ist. Gibt es in Krefeld auch eine festzustellende Zunahme der Kindeswohlgefährdung und hat sich die Situation durch den Lockdown wegen der Corona-Pandemie und der damit einhergehenden extremen Situation für Familien noch einmal verschärft?

Sonja Pommeranz: Wir haben von 2018 nach 2019 eine prozentuale Steigerung der Gesamtmeldungen (Anmerkung der Redaktion: Zahl der Verfahren zur Einschätzung des Kindeswohls durch das Jugendamt) um 19 Prozent, von 624 im Jahr 2018 auf 743 im Jahr 2019. Im Bereich der akuten Kindeswohlgefährdung (KWG) um etwa 38 Prozent. In 2018 musste die Jugendhilfe 86 Mal zum Schutz des Kindes eingreifen, ein Jahr später war das 119-mal nötig.

Wie ist das Verhältnis der Meldungen zu akuter Kindeswohlgefährdung zu den Gesamtmeldungen, die bei Ihnen eingehen?

Pommeranz: In 2018 betrug der Anteil der akuten Kindeswohlgefährdung an allen Meldungen 14 Prozent, in 2019 betrug dieser Anteil 16 Prozent, also ‚nur‘ eine Steigerung um zwei Prozentpunkte in Relation zur Gesamtzahl; mehr Meldungen gleich auch mehr Meldungen von akuter Gefährdung. Die Anzahl der Meldungen schwankt durchaus von Jahr zu Jahr um +/- 25 Prozent bei einer leicht steigenden Tendenz über die Jahre. Diese Schwankungen sind durchaus normal.

Und in diesem Jahr?

Pommeranz: In diesem Jahr haben wir noch keine exakten Auswertungen. Die Zahl der Meldungen lag jetzt zur Jahresmitte bei 233 Meldungen, ohne die weiter auf akute Gefährdung analysiert zu haben. Das heißt aber nicht, dass wir nicht in akuten Situationen eingegriffen haben. Wenn man die Halbjahreszahl von 2020 verdoppelt, könnten wir in diesem Jahr wieder rückläufige Zahlen der Gesamtmeldungen haben im Vergleich zu 2019.

Und das trotz des Lockdown und der Situation, dass Eltern mit ihren Kindern über Wochen auf meist engstem Raum leben mussten und mächtig unter Stress standen?

Pommeranz: Wir hatten befürchtet, dass es verstärkt zu Übergriffen kommen könnte, doch die Polizeizahlen haben das nicht gespiegelt. Am Anfang war es ziemlich ruhig bei uns, mag sein, dass sich die Erwachsenen zunächst auf sich selbst in der Krisensituation besonnen haben. Zum Ende des Lockdown haben wir beim Team Kindeswohl Krefeld bei unserem Beratungstelefon verstärkt Anrufe von Eltern selber erhalten, die Unterstützung suchten. Als die Kurzarbeit mit all ihren Folgen noch hinzu kam, hat sich das noch verstärkt.

Wie haben Sie darauf reagiert?

Pommeranz: Wir haben ihnen Tipps gegeben und sie teils an anderen Hilfe-Einrichtungen vermittelt. Die Mitarbeiter unser 47 städtischen Kindertagesstätten (mit etwa 4000 Plätzen) haben außerdem alle ihre Eltern einmal die Woche angerufen und gefragt, wie es den Familien geht, teils mit den Kindern gesprochen und somit einen Eindruck bekommen, wie es läuft. Die Kinder, die unter Kindeswohlgefährdung bekannt sind, ebenso wie die, deren Eltern oder alleinerziehende Mütter etwas Entlastung brauchten, sind in der Notbetreuung in den Kitas und Grundschulen aufgenommen worden.

Wer wendet sich an Sie unter der Hotline 86 45 45 des Teams Kindeswohl?

Pommeranz: Die Aufmerksamkeit in der Bevölkerung wächst, nicht zuletzt mit immer neuen Meldungen über schwere Fälle von Missbrauch und Kinderpornographie wie in Bergisch-Gladbach und Lüdge. Jeder kann sich namentlich oder anonym bei uns melden. Das sind aufmerksame Nachbarn, entfernte Familienangehörige, Mitarbeiter aus Kita, Schule und Sportvereinen. Auch Kinderärzte sind wachsam. Wir sind 365 Tage im Jahr, 24 Stunden am Tag zu erreichen.

In welchen Fällen wendet man sich an das Team?

Pommeranz: Zu 25 Prozent wegen häuslicher Gewalt, gefolgt von (18 Prozent) weinenden/schreienden Kindern und lautstarken Beziehungskonflikten, wegen Körperverletzung (11 Prozent), Suchtmittelmissbrauch der Eltern (10 Prozent), unzureichender Versorgung und Beaufsichtigung sowie verwahrloster Wohnung (19 Prozent) wie auch wegen Missbrauchs (in 2019 in 18 Fällen, das sind 2,4 Prozent).

Wie reagieren Sie darauf?

Pommeranz: Das Team Kindeswohl prüft jede eingehende Meldung. Die Kollegen fahren zu Zweit raus, begutachten die Situation in der Familie, machen sich selber ein Bild. Wir arbeiten mit einem Ampelsystem. Bei Grün liegt keine Gefährdung vor, der Fall ist beendet. Bei Gelb/Orange bieten wir der Familie Unterstützung an. Bei Rot ist das Wohl des Kindes akut gefährdet und wir nehmen es in Obhut. Wir haben eine Wächterfunktion und schützen in erster Linie die Kinder.