Erkrath Das Vergessen schützt das Gehirn

Kreis Mettmann. · Interview Christian Mörsch ist Sozialpsychologe und kennt sich mit Erinnerungen aus.

Die Zeit ist ein wichtiges Thema für Autor Christian Mörsch. Er empfiehlt, ein sogenanntes Dankbarkeitstagebuch zu führen, um sich schönere Erinnerungen besser zu merken. 

Foto: RP/Dietrich Janicki

Das Jahr 2019 ist jetzt schon wieder ein paar Tage passé. Was bleibt vom alten Jahr im Gedächtnis? Was vergessen wir? Diese Fragen beantwortete der Erkrather Sozialpsychologe und Leiter der Stress-Management-School in Wuppertal, Christian Mörsch.

Trump, Greta, Brexit-Boris, Friedenobelpreis – was ist Ihnen persönlich in Erinnerung geblieben?

Christian Mörsch: Was mir persönlich wichtig war oder mich emotional im Jahr 2019 berührt hat: Da wir unseren Sommerurlaub im vergangenen Jahr in Großbritannien verbracht haben, habe ich natürlich den drohenden Brexit und Boris Johnsons Reden besonders intensiv verfolgt. Und Fridays for Future ist mir auch deshalb in Erinnerung geblieben, weil meine Tochter an einem Freitag selber mit dabei war.

Behalten und Vergessen – ist das Was oder Wie ein individuelles Phänomen?

Mörsch: Letztendlich geht es beim Behalten darum, welche Ereignisse ins Langzeitgedächtnis kommen und welche nicht. Die meisten Momente gelangen erst gar nicht in den Langzeitspeicher unseres Gehirns. Meist wissen wir nicht mehr, was wir eine Woche zuvor gegessen oder gelesen haben. Und das ist auch gut so: Das Vergessen schützt uns davor, Informationsmüll mit uns herumzuschleppen. Was behält das Gehirn nun und was vergisst es wieder? Die Antwort ist auch für Prüflinge relevant, die Lernstoff behalten möchten. In meinem Buch „Prüfungen bestehen für Dummies“ ist dieser Frage ein ganzes Kapitel gewidmet. In aller Kürze: Wir behalten das am leichtesten, was besonders auffällig, außergewöhnlich oder interessant ist. Was als interessant wahrgenommen wird, ist individuell unterschiedlich. Die Urlaubstage im Jahr sind jedoch für alle ungewöhnlich und heben sich vom Alltag ab. Daher können wir uns besonders gut an den Jahresurlaub erinnern und beispielsweise eher nicht an den Mittwoch in der 14. Kalenderwoche.

Erinnern wir uns eher richtig oder oft falsch, verklärt oder zu schwarz gefärbt?

Mörsch: Das Gehirn erinnert sich häufig falsch. Nur das Wichtigste wird festgehalten und so verfälscht, dass es dem Selbstbild dient. Somit geht manches Detail verloren. Wenn wir an ein Erlebnis zurückdenken, tendieren wir dazu, diese Erinnerungslücken auszuschmücken. Negatives wird dabei noch schwärzer gemalt und Positives eher verklärt.

Neigen wir dazu, eher die negativen oder die positiven Erlebnisse zu erinnern?

Mörsch: Das Gehirn merkt sich vor allem die Erlebnisse, die mit starken Gefühlen verbunden waren, egal, ob negativ oder positiv. Dennoch bevorzugt das Gehirn das Abspeichern von schlechten Nachrichten und Erinnerungen. Dieser Negativitäts-Bias ist bereits in der Steinzeit entstanden und hat eine Schutzfunktion. Wenn wir wussten, welche Beeren Bauchschmerzen verursachten, sicherte diese Erinnerung unser Überleben. Es gibt jedoch auch Situationen, in denen wir uns vor allem an Positives erinnern, und zwar wenn wir gerade gut gelaunt sind. In Momenten, in denen es uns nicht gut geht, erinnern wir uns dagegen eher an Negatives.

Manchmal glaubt man, eine Begebenheit, die sich im gleichen Jahr abspielte, sei schon Jahre her. Gibt es dafür eine Erklärung?

Mörsch: Das ist in der Regel ein Zeichen dafür, dass seit der Begebenheit viele weitere wichtige oder außergewöhnliche Dinge passiert sind. Ein gutes Beispiel ist auch hier der Urlaub: Manchmal haben wir bereits am dritten Urlaubstag in einem Hotel oder Ferienhaus das Gefühl, schon ewig hier zu sein. Gerade die ersten Urlaubstage sind von immer wieder neuen und starken Eindrücken geprägt und lassen drei Urlaubstage viel länger erscheinen als drei Arbeitstage. Es ist jedoch auch umgekehrt möglich, dass uns bereits länger zurückliegende Erinnerungen vorkommen, als seien sie erst gerade eben passiert. Das gilt für herausragende wiederkehrende Tage im Jahr; dazu gehören Weihnachten, Silvester und der letzte Geburtstag. An Silvester denken wir oft: Wie schnell das Jahr verging. Das liegt daran, dass wir an das letzte Silvester besondere Erinnerungen haben. Dass dazwischen 365 andere Tage lagen, vergessen wir oft.

Kann man Erinnern trainieren. Und wenn ja: Wie? Und: Ist das sinnvoll?

Mörsch: Ja, man kann das Erinnern trainieren. Das macht vor allem bei schönen Erinnerungen Sinn. Denn auf diese Weise lassen sich der Stresslevel reduzieren und die Zufriedenheit gleichermaßen erhöhen. In meinen Kursen zum Autogenen Training bitte ich meine Teilnehmer oft, sich bewusst an Ereignisse zu erinnern, die mit einem Gefühl von Dankbarkeit, Zuversicht oder Freude verbunden waren. Auch im ganz normalen Alltag sollten sie möglichst oft das wahrnehmen, was schön und angenehm ist. Wenn Sie einen Tag vor dem Schlafengehen noch einmal Revue passieren lassen, dann rufen Sie sich die Momente ins Bewusstsein, die positiv und von Erfolg geprägt waren. Solche guten Erinnerungen zu sammeln wird als Eichhörnchentechnik bezeichnet. Sie können schöne Momente auch in ein Dankbarkeitstagebuch schreiben oder auf einem Zettel notieren und in eine Box legen. Denn: Was Sie aufschreiben, können Sie sich besser merken. An schlechten Tagen können Sie sich mit Hilfe des Tagebuchs daran erinnern, wie viele positive Momente es gab. Die Zettelbox mit schönen Erinnerungen können Sie um die Jahreswende öffnen und sie sich noch einmal bewusst machen. Besonders reizvoll ist eine Familienbox, in die jedes Familienmitglied Zettel mit den Momenten hineinlegt, die ihm besonders gut gefallen haben. Diese dann gemeinsam herauszuholen und vorzulesen, kann zu einem lohnenswerten Familienritual werden.

Eine sehr schöne Idee.

Mörsch: Noch ein letzter Vorschlag zu diesem Thema: Bereits beim Aufwachen können Sie auch an einem ganz normalen Arbeitstag darüber nachdenken, worauf Sie sich heute freuen. Den Morgen so zu beginnen, hilft Ihnen, mit besserer Stimmung in den Tag zu starten und dann tatsächlich vor allem das zu bemerken, was gut ist.