Waldorfschule wird 30 Jahre alt
Immer noch ist die Pädagogik eng an den Gründervater angelehnt. Sie soll ein Gegengewicht zur Hektik darstellen.
Haan. „Der Sonne liebes Licht, es hellet mir den Tag. Der Seele Geistesmacht, sie gibt den Gliedern Kraft. Im Sonnen-Lichtes-Glanz, verehre ich, o Gott, die Menschenkraft, die Du in meine Seele mir so gütig hast gepflanzt, dass ich kann arbeitsam und lernbegierig sein. Von Dir stammt Licht und Kraft, zu Dir ström‘ Lieb‘ und Dank.“
Noch immer beginnt jeder Schultag an der Waldorfschule mit diesem Morgenspruch. In den unteren Klassen ist es dieser, in der Oberstufe ein anderer. Sie fühlen sich an wie aus der Welt gefallen, diese Worte Rudolf Steiners, des Anthroposophen und Gründervaters der Waldorfpädagogik. Geistesmacht, Menschenkraft und im Glanz des Sonnenlichtes: Eine solche Sprache erwartet man allenfalls von Lyrikern auf Papier gebannt. Aber nicht dort, wo üblicherweise Schulstoff durchgepaukt wird.
Die Anthroposophie jedoch hatte da schon immer ihre eigenen Wege. Eurythmie, Stricken auch für Jungs und die Mädchen stehen am Schmiedefeuer: Da gibt es so einiges, was nicht in die üblichen Lehrpläne passt. Keine Noten bis zur zehnten Klasse — stattdessen setzt sich der Lehrer am Schuljahresende hin und beschreibt jeden Schüler in aller Ausführlichkeit. „Das ist hier Beziehungspädagogik. Wie begegnen den Schülern auf einer persönlichen Ebene“, sagt Katrin Driesen-Glittenberg. Gemeinsam mit Andreas Müller leitet sie als Geschäftsführerin die Freie Waldorfschule in der Prälat-Marschall-Straße. Danach gefragt, wie viel Rudolf Steiner denn beinahe 100 Jahre nach der Gründung der ersten Waldorfschule noch in Schulbüchern zu finden ist, sagen beide: „Das ist eine gute Frage — auf jeden Fall immer noch eine Menge!“ Natürlich habe sich in einem Jahrhundert vieles gewandelt. Als die Schule vor mittlerweile 30 Jahren mit nur zwei Klassen von Wuppertal in die leerstehende Hauptschule Haan-Gruiten zog, war an Computer noch nicht zu denken. Und auch heute kommen sie nur in der Oberstufe ab Klasse neun zum Einsatz.
Jeder Schultag beginnt mit zwei Stunden Epochenunterricht: ein Fach über mehrere Wochen zwei Stunden. Rhythmus, Sprachspiele und Gedichte: Darin eingebettet wird der Schulstoff vermittelt. Und was ist mit dem „Namentanzen“? „Es gibt Schüler, die diese Kommentare fürchten. Denen sagen wir dann: Sei stolz auf all das, was du kannst!“ Andreas Müller weiß, dass die abfällige Frage nach der Eurythmie noch immer gestellt wird. Ziel der Waldorfpädagogik sei es, die Schüler in ihrer Persönlichkeit wahrzunehmen und zu stärken. Dazu gehöre, ihnen Selbstbewusstsein und -vertrauen zu vermitteln. Waldorfabschluss oder Abitur an der Regelschule — gibt es da einen Unterschied? Andreas Müller, selbst ehemaliger Waldorfschüler, sieht das so: „Man ist schon erstaunt, dass es Menschen gibt, die es anderen schlechter gehen lassen.“ Was er damit meint? Ellenbogendenken, den eigenen Vorteil suchen und bewusst Dinge tun, die vermeintlichen Konkurrenten einen Nachteil verschaffen: Das seien Charaktereigenschaften, denen auf der Waldorfschule durch Erziehung zu Sozialkompetenz entgegengewirkt werde. Stattdessen sehe man das Potenzial, das sich in jedem Schüler entfalten könne. Ein Trend, den er zunehmend beobachtet: „Eltern wollen mehr zu den Hintergründen wissen.“