Herr Diestler, wie ist die Geschäftslage der Wirtschaft zu bewerten?
Kreis Mettmann Getrübte Aussicht in der Wirtschaft
Kreis Mettmann. · Interview Die Wirtschaftslage ist momentan laut Experten nicht optimistisch zu bewerten.
Die Konjunktur hängt ab von der Entwicklung einzelner Unternehmen oder von einer besonderen Branchenstruktur. Industrie- und Handelskammer-Experte (IHK) Gerd Helmut Diestler gibt einen Überblick über das Thema.
Gerd Helmut Diestler: Das Jahr 2019 war insgesamt von einer immer noch guten Konjunktur geprägt, wenngleich sich die wirtschaftliche Lage im Jahresverlauf allmählich abgeschwächt hat. Dies kam nicht überraschend, sondern hatte sich schon länger in den Erwartungen der Betriebe abgezeichnet. Vor allem Exporteure oder Zulieferer für die exportierte Industrie spüren dies bereits deutlich. Dabei kommt die Wirtschaft aus Jahren absoluter Hochkonjunktur – und von einer Krise kann daher bislang keine Rede sein.
Wie ist die tendenzielle Aussicht für das kommende Jahr, welche Faktoren spielen hier für die Prognose eine wesentliche Rolle?
Diestler: Die Aussichten sind verhalten. In unserem Konjunkturbericht vom Herbst haben wir formuliert: Die Konjunktur steht zum Jahreswechsel auf der Kippe. An dieser Einschätzung hat sich bislang nichts geändert. Risiken bestehen weiter im außenwirtschaftlichen Umfeld. Allerdings wissen wir schon seit Ludwig Erhard, dass Wirtschaft auch ganz viel mit Psychologie zu tun hat. Für Unternehmen sind daher ungünstige Rahmenbedingungen fast ebenso schlimm wie die Ungewissheit darüber, welche Bedingungen künftig für sie gelten. Würden also – neben der Bekanntgabe des endgültigen Datums für den Brexit und dem verabschiedeten Klimaschutzpaket der Bundesregierung – auch noch weitere Unsicherheiten beseitigt, etwa durch internationale Handelsabkommen zwischen den USA und China oder zwischen der EU und den USA, dann wäre schon viel gewonnen.
Unternehmen aus der Region blicken eher pessimistisch in die Zukunft. Neben der Industrie verfinstern sich die Aussichten vor allem für industrienahe Dienstleister – wie ist die Stimmung?
Diestler: Optimistisch ist die Wirtschaft in Gänze derzeit tatsächlich nicht. Aber von Pessimismus ist sie auch noch ein gutes Stück entfernt. Wir würden daher eher von „getrübten“ als von „verfinsterten“ Aussichten in der Logistik, der Beratungsbranche oder bei den produktionsverbindenden Großhändlern sprechen, als Folge der sich abschwächenden Industrie im Neanderland, aber auch andernorts in Deutschland. Aber nochmals: Wenn wir heute von „Eintrübung“ sprechen, müssen wir uns vergegenwärtigen, von welch hohem wirtschaftlichen Niveau und andauerndem Allzeit-Hoch wir kommen.
In Wülfrath schließt Knorr Bremse, welche Auswirkungen hat das?
Diestler: Zur Entwicklung einzelner Unternehmen und einzelunternehmerischer Entscheidungen kann sich eine IHK als Vertretung der gesamten vor Ort ansässigen Wirtschaft nicht äußern. Jede Schließung und jeder Arbeitsplatzverlust bedeuten immer einen Verlust für den Wirtschaftsstandort und für die Region. Und während es Sache der Tarifpartner ist, Arbeitsplatzverluste für die Betroffenen abzumildern, so ist es Sache von Politik und Wirtschaftsförderung vor Ort, durch kluges Ansiedlungs- und Flächenmanagement den Standort für bestehende Unternehmen(steile) und deren Arbeitsplätze zu sichern sowie neue Unternehmen anzusiedeln, die auch neue Arbeitsplätze schaffen.
Sind weitere Schließungen im Geschäftsfeld Automobilindustrie zu erwarten?
Diestler: Wir spekulieren nicht. Allerdings wird deutlich, dass die Automobilindustrie und ihre Zulieferer vor großen Herausforderungen stehen. Jenseits der typischen Konjunkturwellen scheint sich ein größerer struktureller Wandel hin zur Elektromobilität zu vollziehen. Dies ist mit gravierenden Produktionsumstellungen und geänderten Zulieferbeziehungen verbunden, die insbesondere den nördlichen Kreis Mettmann betreffen werden.
Der sogenannte Brexit ist nun beschlossene Sache, welche Auswirkungen hat er?
Diestler: Wie schon erwähnt, positiv ist, dass endlich Gewissheit herrscht. Gleichwohl erwarten die Betriebe vom Brexit insgesamt nichts Gutes. Gewissheit ist das Eine, Erschwernisse beim Im- und Export (neue Bescheinigungen und Kontrollen, neue Zölle) sind das Andere. Daher erwartet rund ein Drittel der Betriebe negative Auswirkungen auf ihr Geschäft, kaum eines setzt auf positive Effekte. Dieser Wert ist seit Jahren relativ konstant.
Das Klimapaket kommt – und bewirkt was für die Geschäftslage der Wirtschaft?
Diestler: Mit dem verabschiedeten Klimapaket der Bundesregierung steht jetzt hoffentlich der Fahrplan für die nächsten Jahre. Das bedeutet zunächst Planungs- und Investitionssicherheit. Natürlich muss bei der Umsetzung des Klimapakets darauf geachtet werden, dass deutsche Unternehmen im europäischen und internationalen Umfeld wettbewerbsfähig bleiben.
Fachkräftemangel ist kein exklusives Problem einzelner Städte. In welchen Bereichen ist er besonders spürbar, welche Maßnahmen werden ergriffen, ihm zu begegnen?
Diestler: Bedarf an Fachkräften haben alle Branchen. Dieser wird zwar nicht mehr als Konjunkturrisiko Nummer eins genannt, ist aber noch virulent genug, um viele Unternehmen wirtschaftlich zu behindern. Das gilt auch für Branchen mit aktuell eher eingetrübten Aussichten wie die Industrie, die ausscheidende ältere Mitarbeiter ersetzen muss, aber natürlich auch in den nach wie vor boomenden Wirtschaftszweigen wie der Bauwirtschaft. Der Schlüssel, um Fachkräftemangel zu begegnen, lässt sich in drei Worten zusammenfassen: Bildung, Bildung, Bildung! Dazu gehören eine kontinuierliche Anpassung der Ausbildungsberufe an die Arbeitswelt von morgen, eine passgenaue Vermittlung von Auszubildenden an suchende Betriebe, lebenslange Weiterbildung der Beschäftigten, die Erschließung neuer Beschäftigungspotenziale bei Frauen, (langfristig) Arbeitslosen, Migranten und Flüchtlingen sowie die arbeitsmarktgesteuerte Zuwanderung weiterer Fachkräfte.
Welche für die Unternehmen relevanten Gesetzesänderungen stehen 2020 bevor?
Diestler: Ohne Anspruch auf Vollständigkeit bedeuten folgende Neuregelungen neue Belastungen für die Unternehmen: Höherer Mindestlohn auf 9,35 Euro brutto pro Stunde und steigende Mindestlöhne in einigen Branchen, Neueinführung eines Mindestgehalts für Auszubildende, verschärfte Vorgaben für Registrierkassen für Gastronomen, Hoteliers, Einzelhändler und andere bargeldintensive Betriebe, unter anderem mit einer Belegpflicht für Kunden, die Nachunternehmerhaftung für die Abführung von Sozialversicherungsbeiträgen der Subunternehmen, höhere Luftverkehrsteuer (Teil des Klimapakets), steigende Umlage nach dem Erneuerbare-Energien-Gesetz (EEG) für Strom, Absenkung auf 95 Gramm CO2-Ausstoß im Durchschnitt für in Europa neu zugelassene Autos, was zudem erheblichen Druck auf Hersteller, Zulieferer und Kfz-Händler ausüben wird.