Wenn die Gefühle Achterbahn fahren

Die behinderte Tochter von Heike Seger lebt im „Fliednerdorf“ in Mülheim.

Foto: Achim Blazy

Ratingen. Schon während der Schwangerschaft fühlte Lehrerin Heike Seger, dass etwas mit ihrem Kind nicht stimmt. Es fühlte sich irgendwie anders an als bei ihrem ersten Kind. Als dann Tochter Anuschka das Licht der Welt erblickte, wurden bei ihr Neugeborenenkrämpfe diagnostiziert, die sich in 85 Prozent aller Fälle nach etwa einem halben Jahr wieder geben. Doch leider gehörte Anuschka zu den übrigen 15 Prozent, sie litt unter dem sogenannten West-Syndrom, eine nach dem englischen Arzt William James West benannte Form seltener und schwer zu behandelnder Epilepsie. Es begann eine Achterbahnfahrt der Gefühle.

„Alles, was sie bisher konnte, wie zum Beispiel Greifen oder Lächeln, war plötzlich weg. Es folgte eine Zeit mit vielen Untersuchungen, Therapien und Krankenhausaufenthalten, die nicht einfach war. Ich musste ja auch noch für meinen fast drei Jahre älteren gesunden Sohn da sein“, erzählt Mutter Heike. Nach etwa zweieinhalb Jahren wurde die Medikation eingestellt, die Krämpfe schienen aufgehört zu haben.

Die Ärzte sagten voraus, dass jetzt ein Entwicklungsschub einsetzen würde. Doch Anuschka entwickelte sich leider nur langsam und nicht wie erhofft weiter, und mit Beginn der Pubertät begannen die Krämpfe wieder. Ein weiterer schwieriger Weg stand bevor: Ergotherapie, Logopädie, Klangtherapie, Krankengymnastik und vieles mehr standen nun auf dem Programm. „Es war sehr schwer, Schule, Alltag und beide Kinder mit ihren individuellen Bedürfnissen unter einen Hut zu bekommen. Ich habe viele Bücher gelesen, habe mich an jeden Strohhalm geklammert, in der Hoffnung, dass alles besser wird. Jetzt, im nachhinein, weiß ich, dass ich uns alle oftmals überfordert habe“, berichtet die Mutter.

Als Anuschka in den Kindergarten kam, begann Seger wieder zu arbeiten. Auch das war für alle eine harte Zeit, die einer genauen Planung bedurfte: „Ich weiß gar nicht mehr, wie ich das alles geschafft habe. Aber trotzdem hat die Arbeit mir auch immer neue Kraft gegeben. Und jetzt noch bin ich glücklich, an der Johann-Peter-Melchior-Schule zu arbeiten, einer Schule, für die soziales Engagement auch sehr wichtig. “

Anuschka ist jetzt 24 und lebt seit zwei Jahren im Fliednerdorf in Mülheim. Dort wohnt sie mit anderen behinderten Menschen in einer Gemeinschaft zusammen. Seger selber engagiert sich fürs „Dorf“. Sie ist Beisitzerin des im vergangenen Jahres neu gegründeten Fördervereins des „Dorfes“. „Es ist ein Verein, der dort ansetzt, wo die Aufgaben und Möglichkeiten der Stiftung aufhören. Wir möchten unbürokratisch helfen und ihre Arbeit unterstützen“, sagt Manfred Rixegger, erster Vorsitzender des Fördervereines. Es werden zum Beispiel regelmäßige Kurse, aber auch Ausflüge organisiert und Anschaffungen für die Allgemeinheit im Dorf bezuschusst. Finanziert wird diese Arbeit durch die Mitgliedsbeiträge, gewonnene Sponsoren, aber auch Feste und Ausstellungen im „Dorf“.

Mutter Heike Seger musste sich nach der langen Zeit an ihr „neues“ Leben ohne behindertes Kind im selben Haushalt erst wieder gewöhnen. Sie weiß, dass ihre Tochter im Dorf gut aufgehoben ist und sich dort wohlfühlt. Sie besucht Anuschka regelmäßig, geht mit ihr einkaufen, zum Friseur, zu Festen und Feiern, fährt mit ihr in den Urlaub, und auch die Wochenenden verbringen sie gemeinsam.