Als hinter Tönisheide das Ausland begann

1923 bis 1925 besetzte das französische Militär das Ruhrgebiet bis hinunter in den nördlichen Kreis Mettmann. Der Historiker Henri Schmidt erinnert mit einem Buch an diese fast vergessene Periode.

Velbert. Eine Zollgrenze zwischen Tönisheide und Wuppertal? Hunger und Elend in Velbert? Das alles ist heute fast vergessen. Aber eben nur fast. An die Zeit zwischen 1923 und 1925 als das Ruhrgebiet und Teile des heutigen Kreises Mettmann von Frankreich besetzt wurden, erinnert jetzt der Historiker Henri Schmidt in seinem Buch „Velbert in französischer Hand“. Der Stoff reizte den 78-Jährigen, gerade weil diese Zeit zu verblassen droht. „Das ist eine Episode der Zeitgeschichte, die total vergessen worden ist“, sagt er.

Rund zwei Jahre arbeitete sich der ehemalige Polizeichef von Velbert in den Stoff ein, las historische Ausgaben der früheren „Velberter Zeitung“ und suchte alte Akten. Das Ergebnis ist ein 186 Seiten starkes Buch, das Schmidt in Zusammenarbeit mit dem Scala-Verlag herausgegeben hat.

Als die Weimarer Republik nach dem Ersten Weltkrieg den alliierten Siegern nicht die geforderten Reparaturzahlungen leisten konnte, marschierten französische und belgische Truppen 1923 in Ruhrgebietsstädte wie Duisburg, Essen und Bochum ein. Auch Velbert, Heiligenhaus und Ratingen wurden zum belagerten Gebiet — die Nachbarn aus Wuppertal blieben verschont. So verlief zwischen Tönisheide und Wuppertal eine Zollgrenze. Mit fatalen Folgen. „Die Velberter Wirtschaft musste Auslandszoll bezahlen“, berichtet Schmidt. Schnell brach die Produktion vor Ort zusammen. 14 000 Menschen waren arbeitslos. „Die Not in Velbert war groß. Geschäfte wurden geplündert, das Rathaus wurde gestürmt“, weiß der studierte Historiker.

Weil der Hunger immer größer wurde, erntete die Bevölkerung vor den Bauern die umliegenden Felder ab. Im Winter gingen die Menschen fürs Feuerholz in den Langenhorster Forst und gerieten dabei mit der „Gemeindepolizei“ aneinander. Diese wurde von den Franzosen eingesetzt und bestand aus Gewerkschaftern und Handwerkern. Die eigentliche Polizei war „ins Ausland“ verwiesen worden. „Das war dann hinter Tönisheide“, erinnert Henri Schmidt.

Angesichts der hoffnungslosen Lage zog es viele Velberter nach Brasilien. „Dort wurden damals gerade Facharbeiter gesucht“, erzählt der Autor. Diejenigen, die blieben, mussten schließlich auch noch mit der Inflation leben. Um der Verarmung entgegenzuwirken, wurde immer mehr Geld gedruckt — und die Scheine waren täglich weniger Wert. „Da gingen die Frauen mit Geldkoffern in den Laden. Und wenn sie sich nicht beeilten, änderten sich auf dem Weg ins Geschäft schon wieder die Preise“, sagt Schmidt.

Trotz aller Not, die bis zum Ende der Besatzung 1925 herrschte, ging das kulturelle Leben der niederbergischen Bevölkerung weiter. Henri Schmidt wunderte sich über Zeitungen, die auf der Titelseite von Lynchversuchen auf die Polizei berichteten — und hinten Tanz- und Operettenabende ankündigten. Das Fröhlichsein ließen sich die Velberter eben nicht verbieten.