„Ich bin dankbar für jeden Tag“
Zeitzeugin Yvonne Koch erzählt Wülfrather Gymnasiasten vom Holocaust. Erst nach 70 Jahren brach die Überlebende ihr Schweigen.
Wülfrath. Sie war gerade einmal zehn Jahre alt, als ein Gardist sie im Herbst 1944 aus ihrer Schule holte. Binnen 24 Stunden fand das Mädchen sich in einem Vieh-Waggon wieder: Ohne Eltern, als einziges Kind unter 60 anderen Frauen, wurde Yvonne Koch in das Konzentrationslager Bergen-Belsen gebracht: Was mit ihr geschehen würde, wusste sie nicht, doch sie konnte die Todesangst der Anderen spüren.
Es fällt Yvonne Koch nicht leicht, von ihrer Kindheit zu erzählen. Immer wieder macht sie Pausen, sucht nach passenden Worten für das Unvorstellbare. Und doch steht sie am „Gedenktag für die Opfer des Holocaust“ vor den Q2-Schülern des städtischen Gymnasiums Wülfrath. Sie möchte der Generation etwas mitgeben: „Die Zukunft liegt in ihren Händen, deswegen finde ich es wichtig, über die Vergangenheit zu reden“, erklärt sie. Seit mehr als zehn Jahren lädt Pastor Klaus-Peter Rex Zeitzeugen an das Gymnasium ein.
So auch Yvonne Koch: Geboren wurde sie 1933 in der Slowakei, ihr Vater arbeitete als Arzt, die Mutter hat die Handelsschule absolviert. Beide stammen aus jüdischen Familien, waren aber getauft. Zum Schutz brachten sie ihre Tochter in ein katholisches Kloster. Eines Tages kam dort ein slowakischer Gardist auf das Mädchen zu: „Wenn du mir sagst, wo dein Vater ist, kannst du hier bleiben“, hat er gesagt. Erst später erfuhr Yvonne Koch, dass ihr Vater zwei Flüchtlinge aus Auschwitz ärztlich behandelt hatte und deswegen gesucht wurde. Da die Zehnjährige nichts über den Verbleib ihrer Eltern wusste, wurde sie mitgenommen. Bald darauf fand sie sich in einem Zug Richtung Bergen-Belsen wieder.
Yvonne Koch, Holocaust-Überlebende
„Die Fahrt gehört zu meinen schrecklichsten Erinnerungen“, erzählt die heute 83-Jährige den Schülern. „Einige Frauen sind gestorben, es gab kein Essen, keine Toilette, es war ein furchtbarer Gestank.“ Wie Vieh wurden sie schließlich aus dem Waggon getrieben. Vor einer Baracke mussten sie sich ausziehen. „Einige Frauen haben gebrüllt, sie dachten es geht in die Gaskammer“, erzählt Koch. Die Monate im KZ waren geprägt von Hunger, Kälte und Tod. Jeden Morgen gab es einen Zählappell: Drei Stunden mussten die KZ-Insassen gerade stehen. Viele sind zusammengebrochen, diejenigen die sich bewegten, wurden von den Schäferhunden gebissen. „Auch ich habe mich bewegt, aber der Hund hat mich nicht angerührt“, erinnert sich die 83-Jährige.
Unter den Insassen gab es keine Solidarität, keinen Trost. Bis eines Tages eine Frau der 10-Jährigen ein Paar Handschuhe schenkte: „Die Fäden hat sie wohl aus den Decken gezogen“, sagt Yvonne Koch. Für sie haben die Handschuhe eine große Bedeutung: „Sie waren das einzige Zeichen menschlicher Wärme.“ Die Frau hat sie nie wieder gesehen. April 1945: Als die Engländer Bergen-Belsen befreien, liegt Yvonne Koch im Koma. Sie kam in ein britisches Lazarett. Über einen Suchdienst haben die Eltern ihre Tochter wieder gefunden. 70 Jahre lang hat Yvonne Koch nicht über ihre Vergangenheit gesprochen, mit 75 Jahren hat sie ihre Erinnerungen zu Papier gebracht. „Ich sehe mich nicht als Opfer, sondern bin dankbar“, sagt sie und gibt das den Schülern weiter: „Seid dankbar für jeden Tag, er ist nicht selbstverständlich.“