Ratingen. Karneval im Zeichen der Krise - das gab es schon einmal: vor 80 Jahren. Der Erste Weltkrieg mit seinen schlimmen Nachwirkungen war gerade ein Jahrzehnt vorbei, die Inflation hatte viele in Not und Armut gestürzt, innenpolitische Auseinandersetzungen hatten im Land teilweise zu bürgerkriegsähnlichen Verhältnissen geführt.
Da schlossen sich eine Handvoll junger Leute zusammen, um wieder Karneval zu feiern. Im Frühjahr 1928 bildete sich aus Mitgliedern des Männergesangsvereins "Beethoven" die "1.Karnevalsgesellschaft Ratinger Spiesratze". Auch die Wurzeln der Prinzengarde Blau-Weiß reichen bis in diese Zeit zurück.
Doch öffentlich gefeiert werden durfte damals nicht. Der "Ortsausschuss für Jugendpflege" war der Meinung, "dass Karnevalsfestlichkeiten mit den Nöten unserer Zeit sowie der drückenden Armut vieler Volkskreise in schroffem Gegensatz stehen und deshalb nicht angebracht sind", so hat es der Ratinger Brauchtumsforscher Richard Baumann recherchiert.
Gefeiert wurde trotzdem. Die erste "Original-Sitzung der Spiesratze", so schrieb die Presse damals, ließ "an Originalität und Tollheit nichts zu wünschen übrig". An einen Rosenmontagszug war damals aber noch nicht zu denken: Versammlungen und Umzüge unter freiem Himmel waren strengstens verboten. Nur im kleinen Eggerscheidt gab es einen - der Dorfgröße entsprechenden - lustigen Umzug. Und so zog es viele Ratinger zum Feiern ins Dorf.
In der Session 1930 wurde das Versammlungsverbot zwar etwas gemildert, aber ein eigener Rosenmontagszug kam für Ratingen weiterhin nicht in Betracht. Die Lage wurde sogar noch schlimmer. Die 1929 mit dem "Schwarzen Freitag" ausgelöste Weltwirtschaftskrise stürzte das ganze Land für Jahre in tiefste Not.
1931 lebte fast ein Drittel der Ratinger Bevölkerung von Stempelgeld, von der Fürsorge oder vom Betteln. Und der "Ortsausschuss" wiederholte seine Warnungen: "Haltet die Jugend fern von allen Auswüchsen des Karnevals, insbesondere von Festlichkeiten, bei denen Leichtsinn und Leichtlebigkeit obwalten."
Und nach der Polizeiverordnung war es überhaupt verboten, auf öffentlichen Straßen und Plätzen Gesichtsmasken zu tragen, mit unkenntlich gemachten Gesicht oder anstößiger Verkleidung zu erscheinen.
Karnevalistisch verkleideten Personen war zudem untersagt, mit Stöcken oder sonstigen harten Gegenständen, die zum Schlagen gebraucht werden könnten, in der Öffentlichkeit zu sein. Veranstaltungen unter freiem Himmel waren grundsätzlich verboten. Gefeiert wurde nur in den Sälen.
Die Wende kam 1934. Am 2.Februar wurde "Maskenfreiheit an der Karnevalstagen" verkündet, unanständige maskerade blieben jedoch strengstens verboten und wurden von der Polizei rücksichtslos verfolgt.
Die früher übliche Maskensteuer schaffte man jedoch ab. Heute unvorstellbar: Damals musste, wer maskiert war, deutlich sichtbar eine Steuermarke tragen, die zeigte, dass er bei der Stadt entsprechend für die Maskierung bezahlt hatte.
Zum Zoch gingen die Leute auch - allerdings nach Düsseldorf. In Scharen fuhren sie mit der Linie12 in die große Nachbarstadt. Das rief schlaue Rechner auf den Plan: Wenn 2.000 Ratinger zum Düsseldorfer Zoch gefahren sind und jeder nur eine Mark ausgegeben hätte, wären das - mit der Fahrt - 3.000 Mark gewesen, die der Ratinger Wirtschaft verlorengingen. Dafür hätte man gut 10.000 Glas Bier trinken können.
Ob diese Rechenspiele den Ausschlag gegeben haben? Auf jeden Fall war Blau-Weiß fest entschlossen, im nächsten Jahr einen Rosenmontagszug auf die Beine zu stellen. 1935 war es dann soweit. "Bilder aus Ratingens alter und neuerer Zeit sollen sich den Augen der Zuschauer darbieten" hieß es zur Gestaltung des Zuges, Kitsch werde nicht zugelassen.
Das erste Prinzenpaar der Stadt Ratingen hieß Heinz Wingerath und Ida Krümmel, die im Sturm die Herrschaft über das Narrenvolk der Dumeklemmerstadt übernahmen. Unter dem Motto "Mir sind och noch do" sahen die Ratinger einen farbenfrohen Zug mit vielen Wagen und Gruppen durch ihre Stadt ziehen.
Die ganze Stadt feierte fröhlich und ausgelassen. Und in der Straßenbahn Richtung Düsseldorf habe man stundenlang keinen einzigen Fahrgast gesehen, berichtete tags darauf die Zeitung. Die Blau-Weißen wurden nach der Session für ihre Verdienste bei der Organisation offiziell zur "Prinzengarde" ernannt.