Wenn der Beton zum Leben erwacht
Der Nevigeser Dom enthält dem flüchtigen Betrachter viele Geheimnisse vor. Diakon Norbert Iseke entschlüsselt diese gerne.
Neviges. Wohl kaum ein anderes sakrales Gebäude fasziniert und irritiert die Besucher gleichermaßen so wie der Nevigeser Dom. Norbert Iseke war 16 Jahre Diakon in Neviges. Er kennt die ersten Reaktionen von Auswärtigen zu Genüge. „Viele kriegen zunächst einmal einen Schock. Man hört dann Bunker oder Betonkloster“, berichtet Iseke. Das monumentale Bauwerk aus Neviges verschließt sich gerade dem oberflächlichen Blick. Umso wichtiger ist die Arbeit von Iseke, der seit Jahren Führungen durch den Mariendom anbietet und erst gestern wieder die Geheimnisse des architektonischen Meisterwerks von Gottfried Böhm für die Besucher entschlüsselte.
Die wohl erste Frage, die sich stellt: Warum diese Form? Warum so wenig Schnörkel? Iseke sagt: „Das Bauwerk soll einen Marktplatz nachempfinden.“ Nicht zufällig erinnert das verschachtelte Faltdach mit seinen sieben Spitzen an gespannte Zelte. „Die Emporen sind die Häuser, die am Marktplatz stehen“, erklärt der 76-Jährige. Böhm orientierte sich in seiner Architektur an einem Ort des profanen Lebens. „Deshalb gibt es hier auch keine wunderschönen Leuchten, sondern lediglich Straßenlaternen.“
Kein Zufall ist es, dass die Kanzel in dem überwältigenden Betonkörper die einzig tragende Säule ist. Gut, dass der Architekt und Bildhauer es verstand, Metaphorik und Architektur in Einklang zu bringen, denn die Kanzel stützt 2700 Quadratmeter Dachfläche. Die Statik des komplizierten Schachtel-Gebildes, war 1968 überhaupt nicht zu berechnen. „Heute ist das mit Computern möglich. Man hat es hinterher nachgerechnet und festgestellt: Böhm hat sicher gebaut“, berichtet Iseke.
Trotz der schlichten Beton-Optik, auf die Böhm wohl auch zurückgegriffen hat, weil Beton eben in den 60er Jahren modern war, hat der Dom eine besondere Aura und kann verzaubern. Norbert Iseke weiß: „Die größten Kunstwerke in der Kirche sind die Fenster.“ Auch sie hat Böhm entworfen. Wenn die Sonne durch die bunten Scheiben scheint und ein sakral aufgeladenes Farbenspiel beginnt, erwacht der Betonbau zum Leben.
Jedes Fenster zeigt ein religiöses Motiv. Etwa das Erlösungsfenster, durch das Licht auf den Altar aus Vulkanstein fällt. Aus dem violetten Lebensbaum geht eine Rose hervor, die Maria darstellt. „Sie ist die Rose ohne Dornen, die aus dem sündigen Menschengeschlecht hervorging“, erläutert der ehemalige Religionslehrer. Wenn der Betrachter den Blick gen Decke reckt, die im Dom maximal 34 Meter hoch ist, lässt sich im oberen Teil des Fensters erkennen, wie aus dem Baum ein Kreuz wird. Rote Punkte deuten dort die Wundmale Jesu an.
Kein Pilger kommt, ohne die Mariensäule gesehen zu haben. Dort ruht das Gnadenbild — nach einem Diebstahl im Februar hinter verstärktem Glas — und viele Besucher legen hier die Hand zur Verehrung auf. Das unscheinbare Bild ist der Grund dafür, dass 1680 das heutige Neviges Wallfahrtsort wurde. Der Geschichte nach hatte sich Pater Antonius Schirley aus dem Franziskanerkloster in Dorsten das Bild an die Wand gehängt. Beim Gebet soll ihn eine Stimme aufgefordert haben: „Bring mich nach dem Hardenberg, dort will ich verehret sein.“
Seither kommen die Pilger in Scharen. Nahmen 1740 noch 20 000 Menschen im Jahr die damals beschwerliche Reise auf sich, so stieg diese Zahl zur Zeit des Ersten Weltkriegs auf 100 000 an. 1935 erlebte die Bewegung ihren Höhepunkt, als 340 000 Pilger nach Neviges kamen. Iseke sagt: „Das war wahrscheinlich auch Protest gegen Hitler und seine Christenverfolgung.“ Die Zahl flaute im Laufe der letzten Jahrzehnte ab und liegt heute bei rund 200 000. Am 1. Mai startet die nächste Wallfahrtssaison.