Förderschulen auf der Kippe?
Kaum ein Standort erreicht die vom Land Nordrhein-Westfalen angekündigte Mindestschülerzahl von 144.
Kreis Viersen. Die Förderschulen in Nordrhein-Westfalen stehen vor einer ungewissen Zukunft. Wenn das Land NRW die Mindestschülerzahl pro Förderschule künftig tatsächlich auf 144 festsetzt und nicht — wie bisher — Unterschreitungen durch Ausnahmegenehmigungen zulässt, ist auch im Kreis Viersen fast jede Förderschule von der Schließung bedroht.
„Mit diesen Plänen wird ohne Not ein funktionierendes Förderschulsystem zerschlagen“, warnt Ingo Schabrich, zuständiger Kreis-Dezernent vor den Auswirkungen, die der vorliegende Referentenentwurf des Landes haben kann. Schabrich betont die guten Konzepte der einzelnen Förderschulen und die „sehr hohe Qualität“ der dort geleisteten Arbeit.
Um diese abzusichern, konferieren die zuständigen Dezernenten der Kommunen im Kreis Viersen zurzeit in enger Taktung — Schabrich sitzt mit Vertretern aus Willich, Kempen, Viersen, Tönisvorst und Nettetal immer wieder an einem Tisch, um einen Plan B mit tragfähigen Ideen und Kooperationsvereinbarungen zu erörtern.
Die Landesregierung treibt die Inklusion voran. Künftig sollen Eltern entscheiden können, ob sie ihr Kind mit Förderbedarf auf einer Regel- oder auf einer Förderschule anmelden wollen. Das gemeinsame Lernen von Kindern und Jugendlichen mit und ohne Behinderung soll in den nordrhein-westfälischen Schulen ausgebaut werden.
Das Wahlrecht der Eltern wird gestärkt. Gleichzeitig erhöht sich der Druck auf die Kreise, Städte, und Gemeinden als Schulträger deutlich. Die Kommunen sehen große Probleme auf die allgemeinen Schulen zukommen. Wenn sich die Zahl der Förderschulen reduziert, müssen deren Schüler in der Fläche unterrichtet werden. „Dazu müsste das Personal in den Regelschulen insgesamt deutlich aufgestockt werden“, sagt Schabrich.
Er nennt ein Beispiel: „Zurzeit werden in der Gereonschule in Viersen mit Förderschwerpunkt Sprache zwölf, dreizehn Kinder von zwei Lehrkräften betreut. Würde die Anzahl an Kindern auf sechs Regelschulen aufgeteilt, muss es insgesamt mehr Betreuungspersonal geben.“ Alternativ müssten betroffene Kinder möglicherweise weitere Schulwege zu einer anderen Förderschule in Kauf nehmen. Da macht der Begriff „Reisepädagogik“ die Runde.
Die Städte Willich und Kempen haben sich in der Absicherung ihrer Standorte gerade etwas Luft verschafft. Die Johannes-Hubertus-Schule in St. Hubert (75 Schüler) wird — das Ja beider Stadträte und die Genehmigung der Bezirksregierung vorausgesetzt — im Sommer 2013 Dependance der Willicher Pestalozzischule. „Damit werden wir die vorgeschriebene Schülerzahl des Landes nach den derzeitigen Zahlen erst einmal erreichen“, ist sich Brigitte Schwerdtfeger, Dezernentin in Willich, sicher.
Die Pestalozzischule besuchen zurzeit 75 Kinder. Die öffentlich-rechtliche Vereinbarung zwischen Willich und Kempen regelt, dass jede Stadt weiterhin die Kosten für den eigenen Standort übernimmt.
Denkbar ist aber auch, dass angesichts rückläufiger Schülerzahlen in Zukunft auch solche Regelungen nicht mehr ausreichen werden, wenn also die Zahl der Kinder, die an Förderschulen im Kreis angemeldet werden, nicht mehr den gesetzlichen Vorgaben entsprechen.
Eine Genehmigung des Landes für eine Förderschule in Kreis-Trägerschaft mit bis zu zehn Dependancen gilt allerdings als unwahrscheinlich. Wahrscheinlicher ist es, dass sich die Zahl der Förderschulen im Kreis halbiert, vielleicht auf nur noch drei oder vier Schulstandorte. Ein Thema, das die Dezernenten am Konferenztisch von Ingo Schabrich gedanklich auch durchspielen müssen. Der Verzicht auf einen eigenen Schulstandort bedeutet für Kommunen allerdings immer einen Wettbewerbsnachteil.