1. Weltkrieg an der Heimatfront: Kriegsspiele und Kohldampf
Vor 100 Jahren begann der Erste Weltkrieg. Wie wirkte er sich am Niederrhein aus?
Willich/Tönisvorst. 28. Juni 1914: Weit entfernt vom Niederrhein fallen einige Schüsse. Serbische Studenten ermorden im bosnischen Sarajewo den österreichischen Thronfolger Franz Ferdinand und dessen Gemahlin. Das Pulverfass Balkan explodiert.
Wie die Schlafwandler taumeln die europäischen Mächte in einen Krieg, den sie durchaus riskieren — jede für andere Interessen und Machtgelüste. Um Frankreich zuvorzukommen, marschieren deutsche Truppen in das neutrale Belgien ein. In den ersten Tagen des Kriegsmonats August kann man den gewaltigen Kanonendonner bei der Beschießung der Festung Lüttich bis in den Kreis Kempen hinein hören.
Am 1. August hat Deutschland mobil gemacht, die Reservisten eilen zu ihren Einheiten. In Schiefbahn begleitet die Schuljugend die Einberufenen voller Begeisterung, mit Trommeln und Pfeifen zur Bahn. Überall bilden sich Jugendwehren, um Kriegsspiele zu veranstalten.
In Willich bewaffnen sich zehn- bis vierzehnjährige Dötze mit Spielzeugsäbeln und -gewehren und erstürmen die (1922) abgebrochene Hohlmühle auf der Dickerheide. Die Schlacht kommandiert der Lehrer Max Bertrams, doch nach einem halben Jahr wird das Hurrageschrei im Grollen der hungrigen Bäuche verklingen.
Geschütze rollen durch die Straßen, feldgraue Truppen ziehen vorbei, die Einwohner reichen ihnen Zigaretten, Süßigkeiten, Limonade. „Alle hatte eine heilige Begeisterung ergriffen“, berichtet der Schiefbahner Jakob Germes.
Aber schon im November liegen mehr als 70 Verwundete im Schiefbahner Krankenhaus. Bereits am 22. Februar 1915 geht man dazu über, das Brot zu rationieren; auch im Ersten Weltkrieg gibt es schon Lebensmittelkarten. Statt der Straßenarbeiter, die jetzt im Schützengraben stehen, werden Anrather Zuchthaushäftlinge zum Wegebau eingesetzt. Ins Gefängnis selbst werden von 1915 bis 1918 1258 Kriegsgefangene eingewiesen.
Vaterlandsliebe — und Profit. Im Willicher Stahlwerk Becker herrscht Hochbetrieb. Besitzer Reinhold Becker hat vorausschauend vor Kriegsbeginn mit der Produktion von Panzerplatten für die Brustwehr von Schützengräben begonnen, 1910 einen Schießstand zur Erprobung in Gebrauch genommen.
Das Gebäude, in dem damals die Fertigung anlief, dient heute an der Anrather Straße als Wohnhaus und heißt bei alten Willichern noch „der Panzerblock“. Dazu kommen Granathülsen und Schutzschilde für Scharfschützen. Weil viele Männer an der Front sind, müssen auch französische Kriegsgefangene ran. Der satte Gewinn bringt dem Werk einen Bau-Boom: Ein neues Blechwalz- und ein Rohrwerk entstehen, eine neue Schmelzerei — nur drei Beispiele von vielen.