Lesetipp aus Tönisvorst Ein Leben zwischen Kohlenzeche und Kunstakademie
Tönisvorst · Carmen Alonso, die Leiterin der Tönisvorster Stadtbücherei, gibt unseren Lesern Literaturtipps. Dieses Mal: „Steinhammer“ von Jörg Thadeusz.
Jung sein bedeutet, laut Musik hören, knutschen, träumen von der großen, weiten Welt. Doch für Edgar, Freundin Nelly und Kumpel Jürgen ist die Erfüllung dieser Sehnsüchte schwer: Im Ruhrgebiet der 50er hat man andere Sorgen und die Körper und Seelen der Elterngeneration sind von Kriegs-Erlebnissen und Entbehrung verhärtet. Die Stimmung in der titelgebenden dortmunder „Steinhammer“ Straße ist rau aber herzlich, Männer sprechen sich hier mit Spitznamen an – Vornamen sind Kinderkram – und können mit den Hoffnungen der Jugend nichts anfangen.
Kapitel für Kapitel lernt man Nachbarschaft und Familienschicksale kennen: Da ist Hauptfigur Edgar, der bei Mutter und Onkel aufwächst; der Vater ist im Krieg gefallen und dessen jüngerer Bruder Jupp hatte ihm im Fronturlaub versprechen müssen, sich in diesem Fall um Witwe und Sohn zu kümmern. Onkel Jupp ist Friseur und seine Kundschaft besteht aus Kumpels aus der Zeche, alles qualmt und flucht. Edgar soll den Laden eines Tages übernehmen, aber er hat sich heimlich bei den Städtischen Bühnen als Kulissenmaler beworben, Filmplakatmaler wäre sein Berufs-Ideal. Sein Plan fliegt auf und Edgar wird wohl in einer Zeche anfangen müssen, es warten Kohlenhobel und Waschkaue.
Freundin Nelly würde gerne als Mannequin arbeiten. Aber da gibt es ihre Großmutter, Typ Ava Gardner, aber häufiger Pellkartoffeln naschend als ihr amerikanisches Vorbild. Die nach wie vor stramme Nationalsozialistin hat für die Entmündigung der eigenen Tochter gesorgt und entschieden, dass Enkelin Penelope (Nelly) eine Stelle als Chefsekretärin antreten wird: sie soll in „gesunde Gesellschaft“, weg von diesen Proleten.
Im Leben der Freunde
warten Veränderungen
Oder Freund Jürgen, der mit seinem Vater einen Kiosk führt. Früher Deutschlehrer, ist der Vater taub und einarmig aus dem Krieg zurückgekehrt. Sohn Jürgen liest viel und gierig. Er versucht sich zwischen Zigarettenregalen und Ahoi-Brause an eigenen Texten, aber für ihn, den sensiblen Poeten, winkt eine Lehrstelle bei Horten als Verkäufer.
Wie sagt Nelly: „Hier ist zwar was los. Aber es passiert nichts!“. Und doch entwickelt sich das Leben der Freunde, es warten Veränderungen: Jürgen geht nach Amerika; Edgar kommt doch auf die Kunstakademie in Düsseldorf. Dort ist schon der erste Tag der Eintritt in eine andere Welt: die Kommilitonen aus meist vermögenderem Hause, die kapriziöse neue Professorin, die exaltierte Kunstszene, die turbulenten Nächte auf der berüchtigten Ratinger Straße. Als die Kunstklasse ein 24-Stunden Happening plant, gibt es einen handfesten Skandal. Es stellt sich die Frage: Welche Grenzen gilt es bei Kunst einzuhalten?
Nach einem Zeitsprung erfährt der Leser, was aus den drei Freunden geworden ist. Edgar lebt mittlerweile die meiste Zeit in Südspanien. Sein ausschweifendes Leben ist vorbei, alles ist schal geworden, die Kontakte zu den Jugendfreunden abgebrochen. Edgar liebt diese iberische Gegend, hier wäre er gern Jung gewesen und hätte die Sprache von Velázquez und Goya gesprochen. Eine unerwartete Begegnung zu seinem 70. Geburtstag versetzt ihn in eine Erinnerungsunruhe: Es scheint die Zeit für eine innere Inventur gekommen…