Das Warten auf Medikamente Lieferengpässe: „Eine Katastrophe“
Vorst · Apothekerin Regina Bormann kämpft in der Markt-Apotheke in Vorst wie ihre Kollegen gegen die akuten Probleme der Branche.
„Es ist eine Katastrophe. Von zehn Kunden muss ich fünf oder sechs sagen, dass wir das Präparat, das ihnen der Arzt aufgeschrieben hat, nicht da haben und auch nicht bekommen. Dann geht die Suche nach Ersatzartikeln los.“ Regina Bormann ist eine erfahrene Apothekerin. Sie führt seit 20 Jahren die Markt-Apotheke in Vorst. Früher nahm sie ein Rezept entgegen, las es durch, zog die Schublade auf und schaute nach, von welcher Firma sie das Medikament vorrätig hatte.
Diese Freiheit hat sie im Jahr 2019 nicht mehr. „Heute schreiben die Krankenkassen die Hersteller vor.“ Um 2004 sei es losgegangen mit den ersten Vorschriften, mit Rabattverträgen, erinnert sich die Kreis-Vertrauensapothekerin. Mehr und mehr Bürokratie zog seitdem in die Apotheke ein. „Gut die Hälfte meiner Arbeitszeit muss ich dafür heute aufwenden.“
Ibuprofen 800 mg sind seit Monaten nicht zu bekommen
Tägliche Lieferschwierigkeiten sind nicht hausgemacht. Überall klagen Apotheker. Besonders auffällig sei es bei einfachen Schmerzmitteln wie Ibuprofen, sagt zum Beispiel auch Axel Schulte. Er führt die Niedertor-Apotheke am Oedter Markt (siehe S. 15). Bormann bestätigt das: „Bei den frei verkäuflichen Ibuprofen, 200 und 400 mg, da geht es noch so gerade. Aber 800 mg Ibuprofen sind fast überhaupt nicht mehr zu bekommen. Seit Monaten.“
Warum sind Arzneien und Impfstoffe nicht vorrätig oder schlecht erhältlich? Gründe dafür gibt es mehrere. Die Vorsterin Regina Bormann ist der Meinung, dass die Krankenkassen einen Großteil der „Daumenschrauben“ anlegen. Sie erwähnt im Gespräch den Bundesrahmenvertrag, in Kraft seit dem 1. Juli. Demnach schließen Firmen mit Krankenkassen Lieferverträge über Wirkstoffe und Verpackungsgrößen ab. „Da ist beispielsweise die AOK als eine der großen Krankenkassen, die mit einem kleineren Hersteller einen Vertrag über ein bestimmtes Blutdruckmittel abschließt. Der Hersteller ist daraufhin ausgelastet. Oder kommt sogar mit der Produktion nicht nach. Und ich bekomme seine Ware nicht.“
Ein anderer Grund für Engpässe sei die Produktion von Rohstoffen oder Arzneimitteln einer geringen Anzahl von Lieferanten im Ausland. Beispiel: der Blutdrucksenker Valsartan. 2018 hatte es bei der Herstellung in China eine Verunreinigung mit krebserzeugenden Substanzen gegeben. Der Rückruf des Präparats führte in der Folge weltweit zu Lieferengpässen. Lieferanten gibt es nicht einmal so viele wie Finger an einer Hand. Und allein in Deutschland wurde der Blutdrucksenker millionenfach verschrieben.
Bormann wird in Vorst sieben Mal am Tag beliefert. Sie bezieht ihre Medikamente von dem Vollsortimenter Noweda in Essen, einem pharmazeutischen Großlieferanten, und von der Otto Geilenkirchen GmbH & Co.KG in Mönchengladbach. „Man bindet sich meist langfristig, setzt auf kurze Transportwege.“ Sicher seit über zwei Jahren müsse sie auf Engpässe reagieren. Auf Impfstoffe treffe das auch zu - gegen Grippe und Hepatitis oder für Kombinations-Impfungen für Kinder gegen Diphtherie, Tetanus, Kinderlähmung, Keuchhusten etc.
Die Suche nach Alternativen für nicht vorrätige oder freigegebene Medikamente fordert die Zeit der Apothekerin. „Wir haben einen Kriterienkatalog zu beachten. So muss ich schrittweise prüfen, ob es einen Rabattartikel, ein Generikum oder ein gleichwertiges Importprodukt gibt. Berücksichtigen muss ich auch den so genannten Preis-Anker. Das Ersatzpräparat darf nicht teurer sein als das, was der Arzt verordnet hat.“ Jeder Schritt müsse dokumentiert werden. Das Bedienen eines Kunden dauere dann etwa doppelt so lang. Zeit, die für „ergänzende Fürsorge im Gespräch mit den Kunden“ knapper wird.
Die Kundenkritik hört der Apotheker im Geschäft. Er ist der Verkünder schlechter Nachrichten am Ende der Kette.
Ein weiteres Problem, das die Branche umtreibt, ist der Personalmangel. „Ich suche seit März, würde zwei volle Kräfte einstellen, aber ich habe in vier Monaten niemanden gefunden“, sagt Bormann und spricht stellvertretend für etliche Kollegen. „Viele Apotheker suchen händeringend PTAs, pharmazeutisch-technische Assistenten.“ Sie würden entlasten, dem Apotheker mehr Zeit verschaffen, den Leuten Dinge intensiver erklären zu können. „Wir gehen teilweise auf dem Zahnfleisch.“
Und wer könnte zur Entlastung und Entspannung der gegenwärtigen Situation beitragen? Regina Bormann: „Die Politiker, weil sie einen Teil der Rahmenbedingungen machen.“ Und die Krankenkassen, „ganz gravierend“. Stichwort Versandhandel.
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