NS-Terror Das Memorbuch der Pogromopfer

Düsseldorf · Allein im heutigen NRW starben am 9. November 1938 oder in seiner Folge 131 Menschen. Eine Neuerscheinung hält jetzt die Erinnerung an sie wach.

Erinnerung an 131 Tote: (v. l.) Bastian Fleermann, Leiter der Mahn- und Gedenkstätte, Ministerpräsident Armin Laschet (CDU), die Buchmitautoren Immo Schatzschneider, Hildegard Jakobs und Gerd Genger sowie Düsseldorfs OB Thomas Geisel (SPD) präsentieren das Gedenkbuch.

Foto: dpa/Roland Weihrauch

Am 27. Januar dieses Jahres, 74 Jahre nach der Befreiung durch die russische Armee, hat Ministerpräsident Armin Laschet (CDU) zum ersten Mal in seinem Leben das ehemalige Konzentrationslager Auschwitz besucht. Jetzt, gut neun Monate später, steht er in der Dauerausstellung der Düsseldorfer Mahn- und Gedenkstätte vor einem Bildschirm, der ein Interview mit Günter Wolff zeigt. Wolff hat als Kind in der Immermannstraße in Düsseldorf gewohnt. Später ist die jüdische Familie nach Auschwitz deportiert worden. Seine Eltern wurden dort ermordet, er hat überlebt.

Günter Wolff nennt sich heute Gary, lebt in Los Angeles und ist inzwischen 92 Jahre alt. Nächstes Jahr am 27. Januar werden er und Laschet sich aller Voraussicht nach begegnen – wenn Wolff zusammen mit seinen beiden Enkeln im Landtag Ehrengast der zentralen Gedenkveranstaltung zum 75. Jahrestag der Befreiung von Auschwitz sein wird.

Ergebnis einer fast zweijährigen Forschungstätigkeitwer

Eine halbe Stunde lassen sich der Ministerpräsident und Düsseldorfs Oberbürgermeister Thomas Geisel (SPD) von Gedenkstättenleiter Bastian Fleermann und seiner Stellvertreterin Hildegard Jakobs durch die Dauerausstellung führen. Eigentlich sind sie aber gekommen, um eine andere Erinnerungsarbeit der Gedenkstätte zu würdigen. Das „Gedenkbuch für die Toten des Pogroms 1938 auf dem Gebiet des heutigen Bundeslandes Nordrhein-Westfalen“ fasst eine fast zweijährige Forschungstätigkeit zusammen, nennt Namen, Lebensdaten und eine biografisch Skizze zu allen 131 Menschen, die in der Pogromnacht oder in deren Folge ihr Leben ließen. Laschet hat zu dem Buch ein Grußwort beigesteuert.

Bereits vor einem Jahr waren am selben Ort die Ergebnisse der Abfragen bei mehr als 420 Archiven, Gedenkstätten, Forschungseinrichtungen und Spezialbibliotheken vorgestellt worden. Damals lag die Zahl der ermittelten Ermordeten noch bei 127. Inzwischen sind vier weitere Namen dazugekommen. Sie alle widerlegen die bis in die Gegenwart kolportierte Behauptung der damaligen NS-Behörden, reichsweit seien bei den Pogromen 91 Menschen ums Leben gekommen.

In der Pogromnacht mit 75 Jahren schwer misshandelt

„Lebensgeschichten sind unsere Exponate.“ Diesen Satz sagt Bastian Fleermann während der Führung durch die Dauerausstellung. Als er später bei der Buchpräsentation ans Mikrofon tritt, greift er aus den 131 im Buch skizzierten Schicksalen das von Eva Cohen heraus. Die Jüdin wird 1863 in Krefeld geboren. Als der NS-Mob die da schon 75 Jahre alte Frau in der Pogromnacht im Bett ihrer Düsseldorfer Wohnung überfällt und schwer misshandelt, erleidet sie einen Schlaganfall. Völlig gelähmt stirbt sie am 29. Dezember 1939 an den Folgen der Misshandlungen. „Niemand hätte sie zu den Opfern der Pogromnacht gezählt“, sagt Fleermann. Nur durch die in der Gedenkstätte gesammelten Zeugenaussagen konnte der unmittelbare Zusammenhang nachgewiesen werden.

Warum er gerade diese Biografie herausgegriffen hat? Weil ihn just am vergangenen Sonntag eine Mail der Enkelin von Eva Cohen erreichte. Sie habe eben das Buch erhalten, bedankt sie sich darin. Und verweist auf ihre Enkel, die gerade zu Besuch seien. Ihnen habe sie nun das Foto ihrer eigenen Großeltern zeigen können.

Das ist es, was Fleermann meint, als er die Veröffentlichung in die alte jüdische Tradition der Memorbücher stellt, in der die Namen der Toten bewahrt werden – und damit auch ein Stück weit ihr Leben. Das ist es auch, was Laschet meint, als er sagt: „Es ist das authentische Einzelschicksal, das uns zum Nachdenken anregt.“ Darin sieht er den Wert des Buches, darin sieht er auch den Wert der Mahn- und Gedenkstätte, die er an diesem Tag zum ersten Mal besucht und von der er sagt, dass am besten jede Stadt Nordrhein-Westfalens eine hätte. Und er stellt die Frage in den Raum, ob der 27-jährige Attentäter von Halle wohl auch bewaffnet losgezogen wäre, wenn er zuvor eine vergleichbare Einrichtung besucht hätte.

Was folgt aus der Forschungsarbeit? Für das heutige NRW gilt durch sie die Zahl der Pogromopfer als annähernd gesichert, für andere Bundesländer nicht. „Ich würde mir wünschen, dass jedes deutsche Bundesland etwas Ähnliches macht“, sagt Laschet auch mit Blick auf die Landesmittel, die in das Projekt geflossen sind. Fleermann spricht vom Wunsch, imitiert zu werden: „Wir wollen Nachahmer finden.“

Zumindest aber soll das Buch dazu beitragen, die Falschmeldungen über die Opferzahlen endlich aus der Welt zu schaffen. Darum wird es auch in den Bestand der Landeszentrale für politische Bildung aufgenommen, als wichtige Quelle für Lehrer beispielsweise – quer durchs Land. Denn der tödliche Terror blieb nicht auf die Großstädte beschränkt: Unter den 63 Orten, an denen Menschen ihr Leben ließen, finden sich Köln, Düsseldorf, Krefeld, Solingen, Remscheid und Wuppertal ebenso wie Willebadessen oder Lüdinghausen.