Wer wenig Ahnung von Musik hat, könnte wohl meinen, dass Klang und Wirkung einer Komposition strikt vorgegeben sind. Es gibt Noten, eine Tonart, Takt- und Tempovorgaben, die Orientierung schaffen. Häufig gibt es auch Aufführungshinweise in der Partitur: „Sehr trotzig“ oder „wütend“ kann da beispielsweise stehen.
Doch wie unterschiedlich „Mit Wut“ unter verschiedenen Interpreten klingen kann und wie sehr solche Deutungen dann auch missglücken oder gelingen können, darum ging es am Montagabend in der Tonhalle. Beim ersten „Quartett der Kritiker“ in Düsseldorfs Konzertsaal saßen die Musikredakteure Joachim Mischke , Jörg Lengersdorf und Wolfram Goertz auf einem Podium in der Rotunde, um über 16 Dirigenten und ihre Aufnahmen der 9. Symphonie von Gustav Mahler zu sprechen. Die Neunte gilt als Abschieds-Symphonie des österreichischen Komponisten. Er schrieb sie in einem Schaffensrausch, allein in seinem Südtiroler Rückzugsort Toblach. Eine Zehnte sollte er nie beenden.
Die Rotunde unter der Tonhalle ist bereits gut gefüllt, als die drei Kritiker ihre Plätze einnehmen. Sonnenlicht fällt durch die schmalen Fenster, fächert sich in Speichen auf dem roten Steinboden, ein sanftes Stimmengewirr erfüllt den Raum. Es ist Adam Fischer selbst, der Dirigent des anschließenden Konzerts, der als vierter Kritiker zu der Runde dazustößt. Im Laufe der Diskussion wird er auch seine eigene Aufnahme des Werks zu hören bekommen – wann, das ahnt er noch nicht.
Zunächst geht es nämlich um Synkopen – nicht nur im Sinne eines leicht verschobenen Rhythmus, wie er den Beginn von Mahlers 9. Sinfonie definiert, sondern auch im Sinne einer kurzen Ohnmacht. Mahler, so wurde den Zuschauern erklärt, lebte mit einer defekten Herzklappe, und als sie sich später schwer entzündete, konnte ihn die Medizin nicht mehr retten.
Adam Fischer hält
sich mit Urteilen zurück
Am Anfang ist der Konsens noch groß. Wolfram Goertz ist sich sicher, dass er die Interpretation von John Barbirolli und den Berliner Philharmonikern (1964) „mit auf eine einsame Insel nehmen würde“, denn sie klinge nicht „so gesund“ wie die von Karel Ancerl und der Tschechischen Philharmonie aus dem Jahr 1966. Lengersdorf ist da gar nicht so anderer Meinung, merkt aber an, dass im ersten Satz der dunklen, eindringlichen Aufnahme „die Geigen zu laut sind, das Seufzen müsste doch leiser sein“.
Bei der relativ langsamen Aufnahme von Georg Solti mit dem Chicago Symphony Orchestra (1982) stellt sich die Frage, wie Wut überhaupt klingen soll – „ist es Tempo, ist es Lautstärke?“, fragt Goertz. „Wer so wütend wird wie Solti, vor dem muss man keine Angst haben“, findet Lengersdorf. Bei Alan Gilbert mit dem Royal Stockholm Philharmonic Orchestra sind sich hingegen alle einig, dass die Interpretation zu schnell geraten ist. Der zweite Satz müsse „im Tempo eines gemächlichen Ländlers“ gespielt werden. „Das ist danebengegangen“, findet Mischke – und entschuldigt sich lächelnd bei Gilbert, der inzwischen Chefdirigent des NDR-Elbphilharmonie-Orchester ist.
Adam Fischer hält sich die meiste Zeit des Abends mit Urteilen zurück. „Ich habe Angst, was Sie zu unserer Interpretation sagen“, räumt er lachend ein und zuckt dann doch bei jeder neuen Aufnahme rhythmisch mit, ballt eindringlich die Faust, schließt die Augen, als könne er gar nicht anders. Erst als der 4. Satz der Symphonie angespielt wird, verändert sich seine Reaktion. Sein Rücken wird auf einmal ganz gerade, ein hoffnungsvolles Lächeln tritt auf sein Gesicht. „Die fand ich eigentlich ganz gut“, sagt er zu einer Aufnahme aus dem Jahr 2019. Ein paar Sekunden später reißt er überrascht die Augen auf, das Publikum muss lachen. Es ist seine eigene Interpretation mit den Düsseldorfer Symphonikern, die ihm da präsentiert wurde. Die Diskussion in der Rotunde der Tonhalle dauerte eineinhalb Stunden. Eigentlich wollte Adam Fischer strikt nach 75 Minuten gehen, um für sich noch etwas Ruhe zu finden, bevor er selbst an dem Abend die Neunte dirigiert. „Einmal Junkie, immer Junkie“, sagt er dann aber und bleibt doch noch, um sich die völlig unterschiedlichen Interpretationen des vierten Satzes von Bruno Walter und Leonard Bernstein anzuhören.
Die 9. Symphonie von Mahler ist ein sehr schmerzhaftes Werk. Das ist der Punkt, an dem sich das „Quartett der Kritiker“ zum Schluss einig ist. „Überlegen Sie sich also gut, ob Sie jetzt gleich wirklich in dieses Konzert gehen wollen“, sagt Wolfram Goertz mit einem Augenzwinkern zum Ende.