Herr Landrat, Sie werden Ende Mai 64 Jahre alt. Da denken andere an Ruhestand, Sie aber stürzen sich in den Wahlkampf für eine dritte fünfjährige Amtszeit. Haben Sie Angst, Ihr Leben könnte ohne Politik langweilig werden?
Interview Hans-Jürgen Petrauschke „Die Mobilität bereitet uns Kopfzerbrechen“
interview Landrat Hans-Jürgen Petrauschke über Klimaschutz, Haushalt und seine Bilanz für 2019.
Hans-Jürgen Petrauschke: Ich hoffe, die Menschen spüren es, wie viel Freude es mir bereitet, Landrat zu sein. Ich arbeite gern für den Kreis und seine 460 000 Einwohner. Es gibt viel zu tun und meine Batterien sind noch voll. Spannende Zukunftsthemen wollen beherrscht werden und ich möchte weiter mit meiner Erfahrung zu guten Ergebnissen für alle beitragen.
Personelle Wechsel gehören zur Demokratie und werden irgendwann auch vom Alter diktiert.
Petrauschke: Im Kreistag zeichnet sich ab, dass der Kommunalwahl viele personelle Veränderungen folgen werden. Auch meine Kollegen auf dem Dezernentenflur im Kreishaus - Ingolf Graul, Karsten Mankowsky und Tillmann Lonnes - werden in der neuen Wahlperiode altersbedingt dem Gesetz der Fluktuation gehorchen. Ich finde, dass da eine personelle Konstante nützlich sein kann. Als Landrat im Rhein-Kreis Neuss möchte ich in bewegten Zeiten eine feste, berechenbare Größe bleiben.
Sie haben sich vor Jahren einmal gewünscht, dass bei der Arbeitslosenquote für den Rhein-Kreis eine 5 vor dem Komma steht. Jetzt liegt die Quote gar bei 4,8 Prozent. Sie müssen zufrieden sein, oder?
Petrauschke: Da ich weiß, dass Beschäftigungspolitik die beste Sozialpolitik ist, ist die Arbeitslosenquote von 4,8 Prozent eine gute Nachricht. Zudem haben wir im Rhein-Kreis nahezu 150 000 sozialversicherungspflichtig Beschäftigte. So viele wie noch nie. Trotzdem bin ich nicht zufrieden, denn immer noch sind kreisweit 11 631 Menschen ohne Arbeit. Jeder Arbeitslose ist ein Arbeitsloser zu viel.
Was kann Politik mit Blick auf den Arbeitsmarkt noch tun?
Petrauschke: Bildung. Bildung. Bildung. Bei den jungen Menschen sehen wir, was machbar ist. Mit 1,7 Prozent ist die Jugendarbeitslosenquote im SGB II bei uns sehr, sehr gut. Wir wissen aber auch, dass 6478 unserer 11 631 Arbeitslosen - also mehr als jeder Zweite - keine abgeschlossene Berufsausbildung hat. Bei den Langzeitarbeitslosen sind es 5155 von insgesamt 7102. Darum setzen wir unsere Anstrengungen fort. Dazu zähle ich eine Vielzahl von Förderprogrammen und Initiativen. Beispielhaft nenne ich „Kein Abschluss ohne Anschluss“, „Checkin Berufswelt“ und die Jugendberufsagentur.
Wie hoch ist der Ausländeranteil an der Arbeitslosenquote?
Petrauschke: 31 Prozent bei einem Ausländeranteil von 15 Prozent an der Gesamtbevölkerung. Bei den Langzeitarbeitslosen liegt der Ausländeranteil bei 37 Prozent.
Fürchten Sie um gute Arbeitsmarktzahlen, wenn Hydro wie angekündigt 600 Mitarbeiter abbaut und durch das Braunkohle-Aus weitere Arbeitsplätze wegfallen?
Petrauschke: Ein sehr schwieriges Thema. Wir haben den Strukturwandel, der dem Braunkohle-Aus folgt, arbeitsmarkttechnisch einmal in drei Bereichen betrachtet. Von den Mitarbeitern, die im Tagebau und in den Kraftwerken direkt beschäftigt sind, wohnen etwa 1500 im Rhein-Kreis. Die relativ kleine Zahl hat uns überrascht. Wie viele Zulieferbetriebe mit deren Beschäftigten betroffen sind, wissen wir leider nicht. Im zweiten Bereich sehen wir die Unternehmen, die von Tagebau und Kraftwerken über Fremdaufträge profitieren. Das Volumen dieser Fremdaufträge für Firmen im Kreisgebiet soll aber nur vier Millionen Euro betragen.
Bleiben die energieintensiven Unternehmen in den Bereichen Aluminium, Chemie und Nahrung.
Petrauschke: Richtig. Dazu zählt dann auch der Arbeitsplatzabbau bei Hydro. Wir als Rhein-Kreis können nur dafür werben, dass wir hierzulande wettbewerbsfähige Strompreise erhalten, damit die energieintensive Industrie im Rheinischen Revier verbleibt.
Was sind für Sie die Big Points, damit der Rhein-Kreis im Strukturwandelprozess bestehen kann?
Petrauschke: Erstens: Wir benötigen ausreichend Industriegebiete. Zweites: Ausbau der Infrastruktur einschließlich der Schienenstrecke Düsseldorf - Neuss - Grevenbroich - Aachen. Drittens: Flächendeckend Breitband- und 5G-Mobilfunkausbau. Viertens: Schnellere (Genehmigungs-)Verfahren.
Sind das nicht zu einem guten Teil fromme Wünsche? Der lahme Breitband-Ausbau ist doch im Grunde ein Trauerspiel.
Petrauschke: Ich bin mit dem Zwischenstand unzufrieden, aber der Breitbandausbau liegt nicht in unserer Hand. Jedenfalls bin ich froh, dass wir bis Ende 2020 zumindest alle Schulen und Gewerbegebiete im Rhein-Kreis Neuss an das Breitbandnetz angeschlossen haben werden. Ich werde alles tun, was in meiner Macht steht, damit die Rahmenbedingungen für unsere Betriebe gut sind. Ich weiß, dass wir eine boomende Wirtschaft benötigen, damit wir uns gute Sozialstandards leisten können.
Apropos Soziales. Schon vor Jahren wollten Sie eine Kreiswohnungsgesellschaft gründen, um mehr bezahlbaren Wohnraum zu schaffen. Hand aufs Herz: Passiert ist nicht viel. Da liegt UWG-Chef Carsten Thiel mit seiner Kritik doch richtig?
Petrauschke: Natürlich ist viel geschehen, auch wenn wir nicht so weit sind, wie ich mir das wünsche. Immerhin stehen drei Millionen Euro für den Sozialen Wohnungsbau im Haushalt.
Und jetzt?
Petrauschke: Jetzt fangen wir einfach mal an. Wir werden im nächsten Jahr die ersten Wohnungen errichten und ich kann mir gut vorstellen, dass wir in der Gemeinde Rommerskirchen den richtigen Premierenpartner gefunden haben.
Thema Mobilität. Wo sehen Sie dort Verbesserungen?
Petrauschke: Auch die Mobilität bereitet uns Kopfzerbrechen. Ein Pluspunkt ist die neue Bahnlinie, die Essen über Deutz, Köln und Grevenbroich mit Mönchengladbach verbindet. Diese S6-Nachfolge soll 2025 fahren. Viermal in der Stunde.
Alle reden vom Umwelt- und Klimaschutz. Sie auch?
Petrauschke: Klimaschutz war, ist und bleibt wichtig. Ich nenne nur mal eine Zahl, die ich beachtlich finde: Seit 1988 haben wir im Rhein-Kreis 223 Hektar Wald gepflanzt. Das ist ein Areal in der Größe von 300 Fußballfeldern. Dabei haben wir weitgehend nicht von der Landwirtschaft genutzte Flächen bepflanzt, sondern bestehende Waldgebiete im Grevenbroicher Elsbachtal, in Neukirchen und in Rommerskirchen den Stommelnder Busch ergänzt. Ich finde, das ist eine gute Bilanz.