Behindert und mündig
Einer Gruppe geistig Behinderter wird die Teilnahme an Wahlen ermöglicht.
Neuss. Am Anfang stand der Umbau des Martin-Luther-Hauses zu einer Begegnungsstätte für Menschen mit und ohne Behinderung. Mittlerweile haben engagierte Mitglieder der evangelischen Christuskirchengemeinde daraus ein ehrgeiziges Projekt entwickelt: Einer Gruppe von sechs bis sieben geistig Behinderten wird in Eigenverantwortung die aktive Teilnahme an Wahlen ermöglicht.
Schritt für Schritt ging in der Gemeinde die Arbeit mit Behinderten voran. Es entstand ein Internetcafé als „Kommunikationsstelle mit Internetvernetzung“. Dieser konzeptionelle Ansatz sei in der Neusser Jugendarbeit „einzigartig und beispielhaft“, urteilte das städtische Jugendamt. Bildungsreisen, Freizeiten wurden angeboten.
Seit vier Jahren nun läuft das Projekt „Menschen mit Behinderung als mündige Bürgerinnen und Bürger“. Dahinter verbirgt sich nicht zuletzt politische Bildungsarbeit mit dem Ziel der Teilnahme an Wahlen.
Projektleiter Helmut Lelittko, über 40 Jahre Presbyter und langjähriger Mitarbeiter im Jugendamt, hat mit seinem Team das aufwändige Inklusions-Vorhaben organisiert. „Es begann mit dem Ausschneiden von Zeitungsartikeln. Was ist wichtig? Und warum?“
Besucht wurden die Kommunalverwaltung, die Gruppe hatte auch ein Gespräch mit Bürgermeister Herbert Napp. Carmen schrieb über den Termin im Rathaus: „Jetzt wissen wir, wenn wir vor dem Gebäude stehen, was da drinnen los ist.“
Nach Vorgesprächen schloss sich ein Termin im Landtag an, die Gruppe reiste nach Berlin, erkundete den Bundestag und traf den Neusser CDU-Generalsekretär Hermann Gröhe, schließlich besuchte man noch das Europaparlament in Brüssel und Straßburg.
Zum Testfall wurden die Landtagswahlen von 2010 und 2011. Nach Befragung der Kandidaten an ihren Innenstadt-Ständen beantragten die Behinderten Briefwahl und machten in einer eigens im Internetcafé errichteten „Wahlkabine“ ihre Kreuze.
„Abwägung war möglich“, sagt Helmut Lelittko, der sich über die Erfolge sichtlich freut: „Ich bin fest überzeugt: Es geht.“ Neue Kenntnisse, neues Selbstbewusstsein „und die Erfahrung, dass jede Stimme zählt“ listet der frühere Sozialarbeiter als Ergebnisse des Projekts auf.
Soeben hat er es auf der Synode der Evangelischen Kirche im Rheinland vorgestellt und nicht zuletzt vom scheidenden Präses Nikolaus Schneider viel Anerkennung geerntet. Auch auf dem Neujahrsempfang des Verbandes der evangelischen Kirchengemeinden in Neuss Ende des Monats wird das Wahl-Projekt Thema sein. Passend das Thema des Empfangs, die Jahreslosung aus Hebräer 13,14: „Wir haben hier keine bleibende Stadt, sondern die zukünftige suchen wir.“
Beendet sei das Projekt natürlich nicht, sagt Lelittko. Schließlich steht die Bundestagswahl an. Unter Beteiligung der Behinderten ist gerade ein Flyer entstanden. Die wichtigste Aussage: Alle Bürger werden aufgefordert, ihr Wahlrecht auszuüben. . .