Geschichtsstunde auf dem Friedhof
Bei einer Führung über den jüdischen Friedhof an der Glehner Straße erfuhren die Teilnehmer viel Wissenswertes.
Neuss. Sie wurde nur knapp vier Monate alt: „Hier ruht unser geliebtes Kindchen Inge Hoffmann, geboren am 11. 11.1921, gestorben am 4.3.1922“. In einer Doppelreihe erinnern kleine Grabsteine an verstorbene Kinder auf dem jüdischen Friedhof an der Glehner Straße gegenüber dem Neusser Hauptfriedhof. Es herrscht andächtige Stimmung, als 16 Teilnehmer die Gelegenheit nutzen, bei der „Offenen Tür Barbaraviertel“ diesen unbekannten Ort zu entdecken.
Stefan Rohrbacher, Verfasser des Standardwerks „Juden in Neuss“, führte mit Stadtarchivar Jens Metzdorf über den Ort der ewigen Ruhe. Sie darf nicht durch Grabpflege gestört werden. „Die Verstorbenen sollen nicht die Profitgier der Lebenden zeigen und die Gräber keinen erfreulichen Anblick etwa durch Bepflanzung bieten“, erläuterte Rohrbacher. Komplette Überwucherung fehlt trotzdem, eher vermittelt der Friedhof den Charakter einer tatsächlich ungestörten Ruhe von Ewigkeitsgräbern mit unbegrenzter Liegezeit. Diese fanden dort auch die Toten des früheren jüdischen Friedhofs an der Düsseldorfer Straße. Er wurde 1890 aufgelöst, die Verstorbenen wurden nach Neuss umgebettet. Ihre Grabsteine stehen im hinteren Teil des Friedhofs.
Der älteste erhaltene Stein ist von Sarah Frank aus dem Jahr 1835. Nach welchen Prinzipien die Umbettung stattfand, ist unbekannt. „Die Auflösung des Friedhofs hängt mit der damaligen Zentralisierung der Friedhöfe und der Hafenerweiterung zusammen“, erläuterte Jens Metzdorf.
Anhand der Grabsteine und ihrer verschiedenen Inschriften brachte Stefan Rohrbacher den Zuhörern die jüdische Bestattungskultur näher: Die Bestattung soll möglichst noch am Todestag erfolgen, was durch die nahe beieinander liegenden Sterbe- und Bestattungsdaten deutlich wird. Zuvor muss der Verstorbene rituell gewaschen und eingekleidet werden — das geschah zu Hause, da ein entsprechender Raum auf dem Neusser Friedhof fehlt. Auf den älteren Grabsteinen lassen sich auf der Vorderseite Texte auf Hebräisch lesen, rückwärtig auf Deutsch. Arm und Reich erscheinen im Tode gleich, daher sollten alle Steine die gleiche Höhe besitzen — was aber nicht durchgehalten wird.
Familiengrabstätten sucht man übrigens vergebens, denn jedes Familienmitglied erhält sein eigenes Grab. 1941 wurde Max Cohnen — offiziell bei einem „Unfall“ verstorben, so Metzdorf — für lange Zeit als Letzter auf dem jüdischen Friedhof während des Nationalsozialismus’ beerdigt. Inzwischen finden wieder Begräbnisse statt, wie 2012 das von Alexander Bederov, Namensgeber des Jüdischen Zentrums. Die Teilnehmer des Rundgangs zeigten sich sehr berührt. Auch Umut Öksüz hat es gut gefallen: „Es war eine spannende Führung mit viel Geschichte.“