Vor 100 Jahren Mit Feuerspritzen gegen die Rheinischen Separatisten
Neuss · Nach dem Ersten Weltkrieg stürzten extreme Inflation und Rheinlandbesetzung die Stadt in turbulente Zeiten. Am 17. Oktober 1923 begann in Neuss die Gegenwehr von Polizei, Feuerwehr und Bürgern gegen die Rheinische Separatistenbewegung.
Es waren turbulente Zeiten im Oktober vor 100 Jahren. Eine Krise folgte damals auf die nächste: Nach dem verlorenen Ersten Weltkrieg und dem Waffenstillstand von Compiègne 1918 lag das Deutsche Reich am Boden. Im Friedensschluss wurde Deutschland verpflichtet, alle Truppen von der Westfront hinter den Rhein zurückzuziehen. So wollten die alliierten Mächte verhindern, dass eine neue Kriegsgefahr vom Reich ausginge. Frankreich, Belgien, Großbritannien und die USA besetzten zunächst die linksrheinischen Gebiete sowie drei Brückenköpfe rechts des Rheins um Köln, Koblenz und Mainz.
Die Stadt Neuss war seit Dezember 1918 von belgischen Truppen besetzt. Unter dem Kommandanten General Lemercier mussten 3000 belgische Soldaten in der Stadt untergebracht werden. Ein äußerst schwieriges Unterfangen: Hunderte Bürger mussten den Belgiern in ihren Häusern Quartier geben, Schulen und Säle wurden zu Truppenunterkünften. Erst im Oktober 1920 entspannte sich die Situation ein wenig, als die Barackensiedlung am Berghäuschensweg bezugsbereit war. Für die belgischen Offiziere wurden bis 1922 über hundert Wohnungen errichtet – die heute unter Denkmalschutz stehenden Backsteinhäuser im Dreikönigenviertel (Schorlemer-/ Thywissen- und Deutsche Straße).
Die Belastung für die Stadt wurde noch größer, als die Alliierten wegen verspäteter Reparationszahlung auch die rechtsrheinischen Gebiete rund um Düsseldorf und Duisburg besetzten. In Neuss wurden Truppen zusammengezogen, es kamen noch mehr Soldaten in die Stadt. Nach dem Krieg war das Leben in Neuss ohnehin nicht einfach: Zeitweise war der Eisenbahn- und Postverkehr verboten, die Rheinschifffahrt eingestellt. Für die Bürger galt lange eine nächtliche Ausgangssperre. Die „Hohe Interalliierte Kommission für die Rheinlande“ mit Sitz in Koblenz setzte zwar in Neuss einen zivilen Verwalter ein, aber faktisch hatte das belgische Militär das Sagen in der Stadt.
Die Geldentwertung war
das zentrale Problem der Zeit
All das wurde begleitet von einer immer stärkeren Geldentwertung. Der schon seit dem Krieg andauernde Wertverlust der Mark und die Unruhen und Proteste gegen die Ruhrbesetzung führten dazu, dass bald Geldscheine von Millionen, Milliarden, ja Billionen Mark gedruckt wurden. Die Stadt Neuss brachte im November 1923 eine Banknote mit der Summe von zehn Billionen Mark in Umlauf. Um ihren Zahlungsverpflichtungen an die Alliierten nachzukommen, brachte die Regierung der Weimarer Republik immer mehr Geld in Umlauf, auch wenn es dafür keine materiellen Gegenwerte im Land gab. Ein Ei etwa kostete damals zeitweise 320 Milliarden Mark, eine Straßenbahnfahrt 50 Milliarden Mark.
Nun zog das nächste Gewitter am Horizont auf: Schon während der Novemberrevolution 1918 gab es Diskussionen um die Bildung einer westdeutschen Republik am Rhein. „Los von Berlin!“, war das Schlagwort, mit dem man sich vom preußischen (und protestantischen) Staat trennen und eine eigene Republik innerhalb des Deutschen Reichs bilden wollte. Noch weiter gingen die Separatisten, die die Rheinlande ganz von Deutschland trennen wollten und den Anschluss an Frankreich suchten. Stützpunkte hatten die „extremen“ Separatisten unter anderem in Aachen, Bonn und Trier. In Neuss stieß das Anliegen auf wenig Gegenliebe. Auch die belgischen Truppen hatten kein Interesse daran. Die Neusser Tageszeitungen, darunter die NGZ, traten geschlossen für den Verbleib des Rheinlands bei Preußen und in Deutschland ein. Alle Neusser Parteien legten ein Treuegelöbnis „zu Volk und Vaterland und zur ungeteilten Reichseinheit“ ab.
Am 17. Oktober 1923 organisierte sich in Neuss eine Abwehr gegen die Separatisten aus Polizei, Feuerwehr und Bürgerschaft, die das Rathaus mit Stacheldraht und Barrikaden umzäunten. Schusswaffen hatten die Verteidiger nach den Bedingungen des Versailler Vertrages keine zur Verfügung. Die Feuerwehr stellte dafür ihre Feuerspritzen bereit. Als am 21. Oktober das Aachener Rathaus gestürmt und dort die Rheinische Republik ausgerufen wurde, erhielt man die Meldung, dass Autos mit bewaffneten Separatisten nach Neuss unterwegs seien. Gewerkschaften und alle Neusser Parteien taten sich zusammen und halfen, die Stadt zu schützen. Die Zufahrtsstraßen wurden kontrolliert und überall Wachen und Patrouillen eingesetzt. Mehrfach hieß es, die Stadt werde angegriffen.
Am Ende blieb der befürchtete Separatistensturm auf Neuss aus. In der Nacht zum 26. Oktober nahm eine Patrouille einen der Oberbefehlshaber der Aufständler, den Anstreicher Karl Leitner, auf der Durchfahrt durch Neuss fest und übergab ihn den belgischen Behörden. Nach der Schlacht im Siebengebirge gaben im November 1923 auch die Franzosen ihre Unterstützung für die Sache der Separatisten auf – die „Rheinische Frage“ war Geschichte.
Im Januar 1926 ging schließlich für Neuss die belgische Besatzungszeit zu Ende. Bei einer Sondersitzung des Neusser Stadtrats sprach sich Oberbürgermeister Heinrich Hüpper für Versöhnung und Frieden mit den Alliierten aus. Ein Wunsch, der zumindest für ein paar wenige Jahre in Erfüllung gehen sollte.