Neusser Gaststätten sterben aus
Nachwuchsprobleme und teure Pachten sind Gründe, warum viele Traditionskneipen schließen müssen.
Neuss. Wer vor rund 100 Jahren durch die Neusser Kneipen ziehen wollte, hatte die Qual der Wahl. Auf 35 000 Einwohner kamen stolze 104 Schankwirtschaften. Zudem gab es zwölf private Brauereien, zehn Likörfabriken und fünf Schnapsbrennereien. Das Gewerbe florierte.
Nur wenig ist von dieser Zeit geblieben. Der Blick auf die Neusser Traditionskneipen und -gaststätten gleicht dem auf eine karge Wüstenlandschaft. Aktuelles Beispiel ist der „Anker“ am Glockhammer, den Michael Feynik nach rund sieben Jahren als Pächter überraschend aufgab. Den „Anker“ gibt es bereits seit 1820.
Lindenhof, „Em schwatte Päd“, Wildpark, Dreikönigenhof: Die Liste der Traditionsgaststätten, die im Laufe der vergangenen Monate und Jahre schließen mussten, ließe sich beliebig fortsetzen. „Es ist erschreckend“, sagt Thomas Strunk, Inhaber des „Haus Obererft“, dessen 20-jähriges Bestehen vor rund einem Jahr gefeiert wurde. Allein in der Südstadt habe es bis vor wenigen Jahren noch 15 langjährig geführte Gastronomien gegeben. Mittlerweile sind es nur noch drei.
Die Gründe für diese Entwicklung sind individuell und vielschichtig: Mindestlohn, Besucherschwund wegen des Rauchverbots, steigende Energiekosten, Wandel der Gesellschaft. „Für viele rechnet es sich einfach nicht mehr“, sagt Strunk, der sich unter anderem durch regelmäßige Besuche von rund zehn Schützenzügen über Wasser halten kann. Seit fünf Jahren veranstaltet er Comedy-Events, um junges Publikum anzusprechen. „Mit reiner Kneipenkultur ist nichts mehr zu machen“, sagt der 44-Jährige.
Thorsten Hellwig vom Deutschen Hotel- und Gaststättenverband (Dehoga) Nordrhein bezeichnet das Sterben der Neusser Traditionsgaststätten als bedauerlich. „Viele der Konzepte haben einfach nicht mehr gepasst, so dass man den Betrieb nicht mehr aufrechterhalten konnte.“
Der Markt sei einem kontinuierlichen Wandel ausgesetzt. Auch aufgrund von Digitalisierung und Globalisierung befänden sich Wirte in einem ständigen Anpassungsprozess. „Die regelmäßige Überprüfung des Konzeptes gehört mittlerweile einfach zum gastronomischen Betrieb dazu“, sagt Hellwig. Aus der schwierigen Lage resultiere, dass alteingesessene Wirte den eigenen Nachwuchs nur noch in seltenen Fällen für die Nachfolge begeistern können. „Viele wollen den Betrieb nicht weiterführen, weil der Einsatz einfach zu hoch ist. Mittlerweile muss man mehr sein als ein Gastronom. Unter anderem gibt es heutzutage viel mehr bürokratische Anforderungen als früher“, sagt Hellwig.
Frank Wolters, Wirtschaftsförderer der Stadt Neuss, sieht einen Wandel bei der Nachfrage. „Diese Art der Gastronomie scheint nicht mehr ausreichend wahrgenommen zu werden. An anderen Stellen sehen wir wiederum gastronomische Angebote, die in den vergangenen Jahren neu entstanden sind und angenommen werden.“ Der Trend gehe weg von der rustikalen Kneipe und hin zur sogenannten Erlebnisgastronomie — als Beispiele nennt Wolters Betriebe im Hafen wie das Bohai oder die Hafenliebe. „Dabei kommt es auf modernes Management an“, sagt Wolters.
Michael Schwatten, Inhaber der ur-rheinischen Kneipe „Rheingold“, ist anderer Meinung. „Die Nachfrage nach traditionellen Gaststätten ist immer noch da.“ Gerade auf die Stammkundschaft wirke zu viel Neues eher abschreckend. „Einige Beispiele in der Vergangenheit haben das bewiesen — viele Gaststätten wurden regelrecht kaputtrenoviert. Das größte Problem, das die meisten zum Aufgeben zwingt, sind die hohen Pachten“, sagt Schwatten.