Neusser pflegen Traktoren-Erbe
Vor 20 Jahren rollte in der Neusser Traktorenfabrik im Hafen der letzte rote Schlepper vom Band.
Neuss. Die Faszination der roten Traktoren aus Neuss hat die Enkelgeneration erfasst. Wilhelm Lange (46) gehört zu diesen jungen Fans der Schlepper aus dem Hause Case, an denen sein Großvater Franz Kromeich, von 1922 bis 1938 Schmiedemeister im Neusser Werk des Landmaschinenherstellers International Harvester Company (IHC), mitgebaut hat. Ein Traum des Bäcker und Konditors: Einmal einen kleinen IHC-Traktor zu besitzen.
Das allerdings müsste ein Oldtimer sein, denn der letzte neugebaute Traktor „made in Neuss“ lief vor 20 Jahren im Werk auf der Hafenmole I im Industriehafen vom Band. Der Schlepper vom Modell Maxxtrac 5150, das modernste von nachweislich 89 in Neuss gefertigten Modellen, ist ein kleiner Star in der Szene. Einmal im Jahr ist er im Kappessonntagszug der Neusser Karnevalisten vor einem der Mottowagen zu sehen, ansonsten wird er im Kreiskulturzentrum Sinsteden gehegt und gepflegt. Jeden Mittwoch ist dann im angeschlossenen Landwirtschaftsmuseum Arbeitseinsatz.
Der kleine Kreis der Treckerfreunde dort wandelt sich allmählich. Lange waren es ältere Case-Mitarbeiter, die über den Tag ihrer Rente und über den Tag der Werksschließung mit ihrer alten Arbeit verbunden blieben. Heute, wo die meisten in Neuss gebauten Traktoren schon als Oldtimer gelten dürfen, mischen sich andere Enthusiasten unter sie. Sammler wie Ingo Führers.
Der 27-Jährige nennt sechs Fahrzeuge aus dem Case-Werk sein eigen. Unter diesen befindet sich auch der nachweislich letzte der Modellreihe 844 s, der noch in rot-weißer Lackierung ausgeliefert wurde. Davor waren über Jahrzehnte alle Trecker einheitlich im Farbton „Harvester Rot Nr. 50“ lackiert worden. Danach wurde auf Rot und Silber im Design der Marke Case umgestellt.
Hinter dem Namen Case steht die Firma Tenneco-Case, die das Neusser Werk kaufte und in „Case International“ umbenannte. Da hatte das Unternehmen, das 1908 als Tochterunternehmen der US-amerikanischen IHC mit Sitz in Chicago gegründet worden war, schon fast acht Jahrzehnte Industriegeschichte in Neuss geschrieben. In den 1960er Jahren war es mit über 5000 Mitarbeitern größter Arbeitgeber in Neuss.
Der Konditor Lange und der Sammler Führers haben sich als Ziel gesetzt, Erinnerungsstücke und Dokumente des Werkes zu sammeln und das IHC/Case-Werk nicht in Vergessenheit geraten zu lassen. Diesen Plan verfolgen sie mit Freunden wie Jörg Büttgen (40) oder Rene Offermann (39). Büttgen wurde schon als Kind vom „IHC-Virus“ befallen, weil er auf dem Hof seines Onkels in Uedesheim nur mit Traktoren dieser Marke zu tun hatte. Nun steht er kurz davor, seinen ersten eigenen IHC zu erwerben. Rene Offermann wiederum hat bereits in Diensten eines Lohnunternehmers im Kreisgebiet schon IHC-Traktoren gefahren und gepflegt und liebäugelt nun mit einem „CASE IH“.
Am alten Werksstandort erinnert heute nichts mehr daran, dass dort von 1908 bis zum 27. Juni 1997 600 000 Traktoren, 1,5 Millionen Motoren und 1,8 Millionen Landmaschinen produziert wurden. Das Werk, dessen Schließung von der Case-Konzernleitung am 7. Oktober 1993 bekannt gegeben worden war, wurde in den Jahren 1998 bis 2000 abgebrochen. 2011 gelang es, den Automobilzulieferer Pierburg für den Standort zu interessieren, wo dieser Ende 2014 sein Niederrhein-Werk eröffnete. „Original Case“ ist heute nur noch die alte Lok auf dem Kinderspielplatz im Stadtgarten.