Von der schwierigen Aufklärung im Fall Amri
Der Neusser Landtagsabgeordnete Jörg Geerlings leitet den Untersuchungsausschuss zum Terroranschlag in Berlin. Vernommen wurde jetzt auch eine Mitarbeiterin der Stadtverwaltung.
Neuss. Sie befragen Zeugen, wühlen sich durch Aktenberge, sichten Dokumente — und stochern doch immer noch im Nebel: Seit vier Monaten beschäftigen sich Abgeordnete im Parlamentarischen Untersuchungsausschuss I des Landtags mit dem Terroristen Anis Amri, der beim Attentat auf dem Berliner Weihnachtsmarkt am 19. Dezember 2016 zwölf Menschen, darunter eine Neusserin aus Lanzerath, getötet und 50 weitere zum Teil schwer verletzt hat.
Ziel des Ausschusses, den der Neusser Landtagsabgeordnete Jörg Geerlings (CDU) leitet, ist es, mögliche Versäumnisse der Landesregierung, der Staatskanzlei sowie einzelner Ministerien und Behörden im Umgang mit Amri, seinem Umfeld und möglichen Unterstützern vor dem Anschlag in Berlin zu untersuchen.
Dutzende Zeugen werden befragt, um den Weg des Islamisten und Terroristen durch Nordrhein-Westfalen nachzuzeichnen und zu klären, wann er wo gemeldet war, welche Behörden mit ihm in Kontakt waren und wer möglicherweise die Chance gehabt hätte, den Terroranschlag auf dem Weihnachtsmarkt zu verhindern. Für den Untersuchungsausschuss bedeutet das vor allem Kleinarbeit: Die Ausschussmitglieder wollen zum Beispiel wissen, wann und wo der 1992 geborene Tunesier, der in Deutschland unter mindestens 14 verschiedenen Namen registriert gewesen sein soll, gemeldet war.
Die inzwischen zwölfte Sitzung des Untersuchungsausschusses, zu der Geerlings jetzt eingeladen hatte, bestätigte einmal mehr den Eindruck, dass Amri bei der Vorbereitung seines Attentats deshalb leichtes Spiel hatte, weil er sich mangels einer eindeutigen Erfassung von Flüchtlingen mit Fingerabdrücken und biometrischen Fotos sowie fehlender Möglichkeiten eines bundesweiten Datenabgleichs offenbar fast ungehindert und mit immer neuen Identitäten in Deutschland bewegen konnte.
Vernommen wurde dazu jetzt auch eine Mitarbeiterin der Stadtverwaltung Neuss, die am 19. Dezember 2016, dem Tag, als Amri mit einem gestohlenen Lastwagen auf den Weihnachtsmarkt an der Gedächtniskirche raste, dessen Abmeldung aus Neuss bearbeitet hatte. „Warum an diesem Tag?“, wollte Daniel Sieveke, Sprecher der CDU-Fraktion im Untersuchungsausschuss, wissen. „Purer Zufall“, so die Zeugin, die in den Tagen vor Weihnachten 2016 damit beschäftigt war, hunderte Flüchtlinge, die zuvor im früheren Alexianerkrankenhaus in Neuss untergebracht waren, abzumelden. Der Grund: Die Unterkunft war kurz zuvor geräumt worden. Die Bezirksregierung hatte die Flüchtlinge anderweitig untergebracht. Die Neusserin bekam eine 47 Seiten lange Excel-Liste mit Namen und machte sich an die Arbeit. Zu Gesicht bekommen habe sie die Flüchtlinge nicht, auch sei es nicht ihre Aufgabe gewesen, die Personalien auf Plausibilität zu überprüfen.
Nach Aktenlage soll der Tunesier am 28. Oktober 2015 unter dem Namen Ahmed Almasri bei der Zentralen Annahmestelle Dortmund registriert und dann der Zentralen Unterbringungseinrichtung (ZUE) in Neuss sowie später der Gemeinde Bestwig zugewiesen worden sein. Ob er dort oder in Neuss jemals angekommen ist, ist allerdings fraglich. Bereits einen Tag später, am 29. Oktober 2015, soll Amri erneut unter dem Namen Ahmed Almasri als Asylsuchender registriert worden sein, diesmal in Münster mit Weiterleitung in die ZUE nach Dinslaken, später dann nach Oberhausen, wo er bis zum 18. Mai 2016 gemeldet gewesen sein soll. Längst nicht alle Zeugen, die im Untersuchungsausschuss befragt werden, hatten persönlichen Kontakt zu Amri. Für viele ist er nur ein Aktenzeichen in den verschiedensten, nicht immer miteinander verbundenen Datenbanken.
Anders ein Zeuge, der 2015 bei der Stadtverwaltung Dortmund für die Erstregistrierung von Asylsuchenden zuständig war. Bei ihm stand der Tunesiers, der sich zu diesem Zeitpunkt Mohamed Hassa oder Hassan nannte, am Schreibtisch, angeblich um sich erstmals nach seiner Flucht in Deutschland registrieren zu lassen. Dass der Islamist zu diesem Zeitpunkt längst in Karlsruhe und Berlin erfasst und mit einer sogenannten „Bescheinigung über die Meldung als Asylsuchender“ (BüMA) ausgestattet worden war, bleibt dem Dortmunder verborgen: „Keine Chance“, sagte der Zeuge. Die Gründe: Arabische Namen existierten in unterschiedlichsten Schreibweisen, Geburtsdaten wurden geschätzt, Ausweispapiere gab es nicht, ebenso wenig wie zentrale Datenbanken auf aktuellem Stand. Zwischen den Bundesländern wurden Akten zwar offenbar ausgetauscht, allerdings erst mit großem Zeitverzug und ohne Rückmeldung an die Erstregistrierungsstellen. „Bei einer falschen Selbstauskunft und unterschlagenen Papieren“, berichtete der Zeuge, seien Mehrfachregistrierungen kaum zu verhindern gewesen.
Hinzu kam, dass sich Flüchtlinge, die einer Erstaufnahmeeinrichtung in NRW zugewiesen wurden, landesweit frei bewegen konnten. In anderen Bundesländern galten strengere Regeln. In Bayern zum Beispiel mussten sich Flüchtlinge in Einrichtungen bestimmter Städte melden.
Auf dem Höhepunkt der Flüchtlingswelle war für Kontrollen und Gegenchecks der Identität nach Darstellung des Zeugen aus Dortmund kaum Zeit: „Teils kamen pro Tag 1000 Menschen in eine Einrichtung, in der nur Platz für 300 war. Wir waren nur noch mit dem Registrieren beschäftigt.“ Erst im Frühjahr 2016 ändert sich das Verfahren: Mit der sogenannten PIK — Personalisierungsinfrastrukturkomponente — werden Asylsuchenden bei der Registrierung auch Fingerabdrücke abgenommen und zentral gespeichert. In den Monaten zuvor jedoch, vor allem im Sommer 2015, als in kurzer Zeit immer mehr Flüchtlinge nach Deutschland kamen, scheinen bei der Registrierung teils chaotische Zustände geherrscht zu haben. Geerlings, als Vorsitzender des Untersuchungsausschusses zu Neutralität verpflichtet, formuliert es vorsichtiger: „Es bestätigt sich ein Bild von Zuständen, die von normalen Verwaltungsabläufen weit entfernt sind.“
Geerlings drängt auf Aufklärung und will weitere Zeugen vernehmen. Das könnte noch bis zum Jahresende so weiter gehen. Geerlings glaubt, dass sich „Kleinstarbeit und Aktenfressen“ trotz vieler noch immer offener Fragen lohnen: „Wir wollen wissen, was damals passiert ist, vor allem aber Schlüsse für die Zukunft ziehen.“ Eine Konsequenz für den Landtagsabgeordneten: Verwaltungs- und Strafverfolgungsbehörden müssen technisch, aber auch mit Blick auf ihre Befugnisse, besser ausgestattet werden.
Dafür will die CDU das NRW-Polizeigesetz ändern. Ein Gesetzentwurf soll Ende April im Landtag eingebracht werden. Das Ziel: die Überwachung von verschlüsselten Messenger-Diensten wie Whatsapp, Aufenthalts- und Kontaktverbote, elektronische Fußfesseln für terroristische Gefährder, mehr Videoüberwachung und — bei polizeilichem Anlass — auch die verdachtsunabhängige Schleierfahndung.