Prozess in Neuss Schüler gegen Lehrer: Konflikt im Klassenzimmer landet vor Gericht

Weil die Schüler zu laut sind, lässt der Lehrer sie einen Text abschreiben. Solange setzt er sich mit seinem Stuhl vor die Klassentür. Freiheitsberaubung?

Musiklehrer Phillip Parusel vor dem Amtsgericht in Neuss

Foto: Rolf Vennenbernd

Neuss. Zunächst war es wohl eine ganz alltägliche Unterrichtsstunde: Der Lehrer will etwas erklären, aber die Schüler sind laut und hören nicht zu. Doch was dann in der damaligen Klasse 6b der Realschule in dem niederrheinischen Städtchen Kaarst geschah, beschäftigt jetzt ein Gericht. Der Lehrer sitzt wegen Freiheitsberaubung und Körperverletzung auf der Anklagebank. Laut Staatsanwaltschaft hatte er den Schülern eine Strafarbeit aufgebrummt und wollte sie nicht rauslassen, ehe sie die Aufgabe erledigt hätten. Als ein Junge trotzdem gehen wollte, soll er ihm in den Bauch gestoßen haben - der 13-Jährige habe danach über Schmerzen geklagt. Soweit die Anklage.

Im Prozess vor dem Neusser Amtsgericht schildert der Pädagoge Phillip Parusel den Vorfall am Donnerstag so: In der Musikstunde sollte es an jenem Tag im April 2015 um den Geigenvirtuosen Paganini gehen. Eigentlich habe er den Kindern ein kurzes Hörspiel vorspielen wollen, aber die Schüler seien zu unruhig gewesen. „Deshalb habe ich mich entschlossen, den Unterricht in schriftlicher Form fortzuführen“, erklärt der 50-Jährige. „Das war keine Strafarbeit.“ Er trug den Schülern auf, einen Text über Paganini abzuschreiben.

Etwa zehn Minuten vor Unterrichtsschluss setzte sich der Lehrer demonstrativ mit seinem Stuhl in den Türrahmen. Die Schüler forderte er auf, sich in einer Reihe aufzustellen und ihm nacheinander ihre Arbeiten zu geben. „Das dauerte natürlich einige Minuten. Aber wer abgegeben hatte, durfte gehen.“ Ein Schüler habe sich vorgedrängt und gesagt, er müsse jetzt los. „Ich habe ihn weggeschoben, er sollte sich anstellen, wie die anderen“, erzählt der Angeklagte und betont: „Ich habe ihm nicht in den Magen geboxt.“ Ein anderer Junge rief per Handy die Polizei - er musste nach Angaben des Lehrers länger dableiben, weil er Ordnungsdienst gehabt habe.

Dieser heute 14-jährige Junge stellt die Situation anders dar: „Die Schüler, deren Arbeiten unvollständig waren - so wie meine - durften nicht gehen“, sagt er als Zeuge vor Gericht. Das Verhalten des Musiklehrers sei schon zuvor teilweise „furchterregend“ gewesen - unter anderem habe er mit Schlagzeugstöcken laut auf den Tisch gehauen. Er habe gesehen, wie der Angeklagte seinen Freund „recht heftig“ in den Bauch gestoßen habe, berichtet der Schüler. Ein anderer Junge relativiert das im Zeugenstand: Der Stoß sei von normaler Kraft gewesen - „nicht heftig und nicht leicht“.

Nach dem Notruf hatte die Polizei den Schulleiter alarmiert, der kurz vor den Beamten zum Klassenraum geeilt kam. Er habe das Schlimmste befürchtet, sagte der Rektor als Zeuge aus. „Als die Leitstelle anrief, hieß es, dass im Musikraum ein Lehrer Schüler eingeschlossen hätte und sie schlagen würde.“ Doch dort angekommen habe er eine vollkommen unaufgeregte Situation vorgefunden, „es sah aus wie ganz normaler Alltag“, erinnert sich der 60-Jährige. Fast alle Schüler seien bereits weg gewesen.

Vor dem Gerichtsgebäude stehen ehemalige Schüler, die ihren früheren Lehrer unterstützen und T-Shirts mit Solidaritätsbekundungen tragen: „Free Parusel“. Ein Mädchen sagt: „Wir können uns nicht vorstellen, dass die Vorwürfe gegen ihn Stimmen. Das ist so ein herzlicher Mensch, bis der mal lauter wird, da muss wirklich schon viel passieren.“

Der Prozess wird am 24. August fortgesetzt. Dann soll unter anderem der angeblich gestoßene Schüler als Zeuge gehört werden. Ob dem Lehrer neben einer Verurteilung auch berufliche Konsequenzen drohen, ist noch unklar. Die Bezirksregierung prüft nach eigenen Angaben, ob sie ein Disziplinarverfahren einleitet. Dies hänge maßgeblich vom weiteren Verlauf des Strafverfahrens ab.