Historie Der Tag, an dem die Marseillaise in der Stadthalle gesungen wurde
Der Historiker Reiner Rehfus über die Wahl zur Nationalversammlung und die Verfassung von Weimar.
Aufgrund der Entscheidung auf dem Reichsrätekongress im Dezember 1918 war die Wahl zur Nationalversammlung für den 19. Januar 1919 festgelegt worden. Die Nationalversammlung sollte nach der Abdankung des Kaisers und der Ausrufung der Republik eine neue republikanische Verfassung erarbeiten. Den Parteien blieben – einschließlich der Weihnachtszeit und den Feiern zur Jahreswende – weniger als drei Wochen für die Vorbereitung der Wahl.
Die Wahlkreise waren groß geschnitten, denn innerhalb der Wahlkreise sollte nach dem Verhältniswahlrecht eine bestimmte Anzahl von Abgeordneten gewählt werden. Der Wahlkreis 22 (Düsseldorf-Ost) war der bevölkerungsreichste und räumlich kleinste der fünf Wahlkreise in Rheinland-Westfalen. Er umfasste neben Düsseldorf die Städte Solingen, Remscheid, Essen, Elberfeld und Barmen samt der vielen Kleinstädte in diesem Raum. Hier sollten 12 Abgeordnete für die Nationalversammlung gewählt werden. Alle Parteien nahmen besondere Rücksicht auf die Frauen, die neue große Gruppe der Wahlberechtigten. Wie die Frauen wählten, das würde wahlentscheidend sein. Die USPD-Liste wurde sogar von einer Frau angeführt. In großen Anzeigen warb man für „Liste Agnes“, die Düsseldorfer USPD-Politikerin. Die katholische Zentrumspartei hatte Helene Weber (1881-1962), eine im Rheinland bekannte Sozialpolitikerin aus Elberfeld, auf einem der aussichtsreichsten Plätze platziert.
Bei den Sozialdemokraten stand Ernst Dröner auf einem der vorderen Listenplätze. Unterstützt wurde Dröner durch Thekla Landé, die zweite Elberfelder Kandidatin auf der Wahlliste. Thekla Landé hielt im Wahlkampf spezielle Frauenversammlungen ab. Themen waren „Die Revolution und die Frauen“ oder „Religion, Kirche und Schule“.
Die Debatten während des kurzen und heißen Wahlkampfes drehten sich unter anderem um die Sozialisierung der Wirtschaft und die Rolle der Räte. Die SPD erwartete eine sozialistische Mehrheit und warb auf Plakaten mit der Parole „Die Sozialisierung marschiert!“. Die Unabhängigen Sozialdemokraten (USPD) befürchteten, dass die Räte, die mit der Revolution entstandenen neuen Macht- und Mitbestimmungsorgane der Arbeiterschaft, von einer bürgerlichen Mehrheit in der Nationalversammlung ausgehöhlt und mittelfristig abgeschafft werden würden. Walter Stoecker, der Hauptredner bei der Auftaktveranstaltung der USPD, bedauerte, „dass der Rätekongress in Berlin“ „gleichsam Selbstmord an der Revolution begangen habe“ und sah Europa „am Anfang eines großen weltpolitischen Kampfes zwischen Kapital und Arbeit“.
Neben den Sozialdemokraten und den Unabhängigen hatte sich eine dritte Kraft etabliert, die um die Stimmen der Arbeiterschaft warb, die „Deutsch-Nationale Volkspartei“ (DNVP).
Sie hatte sich erst im Dezember 1918 aus mehreren konservativen Gruppen - den Freikonservativen, den Christlich-Sozialen und den Deutschvölkischen - zusammengefunden und konnte sich auf das Netzwerk der evangelischen Gemeinden, der evangelischen Arbeitervereine und deren Hilfswerke stützen. Die Partei entwickelte sich im Wuppertal innerhalb weniger Wochen zur - nach der USPD - mitgliederstärksten Partei. Das organisatorische Zentrum der DNVP war das evangelische Vereinshaus an der Casino-Straße in Elberfeld. Der Kandidat der neuen Partei war der Gewerkschaftssekretär Wilhelm Koch (1877-1950).
Zu Beginn des Jahres 1919 fanden fast täglich Versammlungen und Kundgebungen statt. Ein beliebter Veranstaltungsort für alle Parteien war die Elberfelder Stadthalle.
Die gewaltsamen Ereignisse in Berlin und im Ruhrgebiet, der Spartakus-Aufstand und die Besetzung der Zentrale des Kohlesyndikats durch den Essener Arbeiterrat machten sich auch im Wahlkampf im Wuppertal bemerkbar. Am 9. Januar hatten sowohl die DNVP als auch die Kommunisten zu Kundgebungen aufgerufen. Dem waren jeweils mehrere Tausend Teilnehmer gefolgt. Nach der kommunistischen Versammlung zog eine Straßendemonstration durch die Stadt. An der Kaiser-, die heutige Neumarktstraße, wurde ein Flugblatt der Deutsch-Nationalen verteilt, das provokative Behauptungen über die Kommunisten verbreitete. Empört zog ein Teil der Demonstranten zur Stadthalle, zur Kundgebung der Deutsch-Nationalen.
Elberfelder Stadthalle war ein beliebter Versammlungsort
Eine Gruppe von 100 Demonstranten drang in die Wandelhalle vor, 20 bis 30 von ihnen verschafften sich Zutritt zu dem großen Saal. Der Anführer, der wohlgekleidete Robert Brink, sprang auf einen Tisch, entrollte eine rote Fahne und verlangte Rederecht, um zu dem Flugblatt Stellung zu nehmen. Die Spartakisten wurden mit Bierkrügen beworfen und ein Fahnenträger schwer verletzt. Die 30 Störer sangen die Marseillaise und die Internationale. Von der Bühne her wurde nun das Deutschlandlied angestimmt. Unter den Klängen von „Deutschland, Deutschland über alles“ kam es im Saal zu einem „allgemeinen Bombardement“ während draußen etwa 2000 bis 3000 kommunistische Demonstranten unruhig Einlass verlangten. Nach der ungleichen Saalschlacht haben im Saal die „Scherben ca. 25 cm an der Wand hoch gelegen“ berichtete am nächsten Tag der General-Anzeiger. Mit deutscher Gründlichkeit wurde eine Schadensliste angelegt, die heute im Stadtarchiv liegt. Sie führt alle bei der „Schlacht“ zerrissenen Wintermäntel, zerbrochenen Schirme und verloren gegangenen Uhren und Hüte auf.
Am 11. Januar hatten Freikorps das in Berlin besetzte „Vorwärts“-Gebäude äußerst brutal beschossen und erobert. Dutzende Besetzer und Revolutionäre, darunter Werner Möller, ein bekannter Wuppertaler Arbeiterdichter, waren an dem Tag ermordet worden. Die Wuppertaler USPD rief ihre Anhängerschaft für den 12. Januar zu einer großen Straßendemonstration gegen das Auftreten der Freikorps und das „gegenrevolutionäre Verhalten der Regierung Ebert-Scheidemann“ auf. Daraufhin rief auch die SPD zu einer Demonstration auf, mit der sie die Regierung in Berlin unterstützen wollte. Nun ergriff – überraschend – auch das bürgerliche Lager die Initiative. Der „Verein Wuppertaler Presse“, in dem die sechs bürgerlichen, konfessionellen und liberalen Zeitungen verbunden waren, überzeugte die Wuppertaler Parteiführer, ihre Anhänger zur Unterstützung der SPD-Aktion aufzufordern. „Wer zu Hause bleibt“, so hieß es in dem Aufruf, der „unterstütze die Feinde der Ordnung“. So zogen am Sonntag vor der Wahl zwei große Demonstrationen durch die Elberfelder Innenstadt. Bei den Unabhängigen Sozialdemokarten waren es etwa 8000 Demonstranten, bei der Gegendemonstration etwa 12 000.
Die USPD-Zeitung „Volkstribüne“ wies auf die ungewöhnliche Zusammensetzung der Gegendemonstration hin. Ernst Dröner, Hugo Landé und Carl Haberland, die prominentesten SPD-Vertreter im Wuppertal, demonstrieren „Arm in Arm“ mit den Liberalen, den Konservativen und den Monarchisten der DNVP. Eine Konstellation, die vor dem Krieg, als die SPD von allen bürgerlichen Parteien als „vaterlandslose Gesellen“ diffamiert wurde, undenkbar war.
Während des Wahlkampfes kam es auch zum Diebstahl von Flugblättern und Einbrüchen in Parteibüros. Drei Tage vor der Wahl wurden am Bahnhof Elberfeld eine Sendung von Plakaten und Broschüren, bestimmt für den Arbeiterrat von Elberfeld, in stark beschädigtem und „gerupftem“ Zustand angeliefert. Von den 500 Kilogramm bestellten Druckerzeugnissen waren nur 100 Kilogramm eingetroffen. Die Materialien sollten noch am selben Tag verteilt, die Plakate aufgehängt werden.
In dieser aufgeheizten Atmosphäre wählten die Wuppertaler am 19. Januar die Abgeordneten zur Nationalversammlung. Es gab einen eindeutigen Sieger: Die Wuppertaler SPD und ihr Kandidat Ernst Dröner (1879-1951) erhielten 38 Prozent der Stimmen. Die zweitstärkste Partei in Elberfeld-Barmen wurde mit 26 Prozent die „Deutsch-Nationale Volkspartei“. Deren Kalkül, in den Industriestädten Elberfeld und Barmen einen Arbeiterkandidaten, den Gewerkschaftssekretär Wilhelm Koch aufzustellen, hatte sich als erfolgreich erwiesen. Die drei anderen wichtigen politisch-weltanschaulichen Strömungen in den Wupperstädten, die USPD-Linke, die katholische „Zentrum“-Partei und die Liberalen, erhielten annähernd gleich viele Stimmen. Die bürgerlich-liberale DDP, auf deren Liste der linksgerichtete Solinger Pfarrer Hans Hartmann kandidierte, errang 13 Prozent, das katholische Zentrum zwölf und die USPD lediglich elf Prozent. Damit blieb die USPD in Elberfeld/Barmen deutlich hinter den Erwartungen zurück. Doch die im Wuppertal gewohnte Mehrheit der Arbeiterpartei, der SPD, war verloren. Zusammen blieben die beiden Arbeiterparteien – anders als vor dem Krieg – in der Minderheit. Die Frauen hatten relativ stärker die konservativen Parteien oder das Zentrum gewählt.
Bezogen auf den gesamten Wahlkreis 22 ergab sich für die Linke ein günstigeres Bild. Die USPD wurde nach der Zentrumspartei und der MSPD die drittstärkste Kraft im Wahlkreis Düsseldorf Ost. Das Bergische Land gehörte neben den Industriegebieten in Mitteldeutschland (Leipzig, Halle, Gotha und Gera) und der Großstadt Berlin, zu den Hochburgen der USPD, später der KPD, in Deutschland.
Von den zwölf Abgeordneten des Wahlkreises 22 stammten drei aus dem Wuppertal. Helene Weber, Tochter eines katholischen Lehrers in Elberfeld, war die jüngste der 37 weiblichen Abgeordneten. Ernst Dröner und Wilhelm Koch sahen sich beide als Vertreter der Arbeiterschaft. Alle drei gehören zu den Mitverfassern der ersten demokratischen Verfassung in Deutschland. Als Friedrich Ebert, der Reichspräsident der neuen Republik und bis 1918 Reichstagsabgeordneter für Elberfeld-Barmen, am 11. August 1919 die neue Verfassung unterzeichnete, gehörte sie zu den freiheitlichsten und sozialsten Verfassungen dieser Zeit.
Drei Wuppertaler Abgeordnete machten Karriere
Die drei Abgeordneten aus Wuppertal machten nach der Wahl bemerkenswerte politische Karrieren. Ernst Dröner wurde Beigeordneter der Stadt Elberfeld. Helene Weber leitete die „»Soziale Frauenschule Aachen“, die Keimzelle der späteren „Katholischen Hochschule NRW“, und wurde Ministerialrätin im Preußischen Ministerium für Volkswohlfahrt, die erste Frau in einer solchen Funktion. Wilhelm Koch wurde Vorsitzender der „Internationalen Arbeitsgemeinschaft evangelischer Arbeitnehmerverbände“ sowie zweiter Vorsitzender des „Gesamtverbands der evangelischen Arbeitervereine“. Der Verband mit Sitz in Elberfeld und Berlin hatte etwa 100 000 Mitglieder. Im Februar 1927 wurde Wilhelm Koch als Verkehrsminister in die Reichsregierung berufen. Nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten schied Koch aus der Politik aus. Er musste anderweitig seinen Unterhalt verdienen und wurde Geschäftsführer des bekannten „Thalia-Theaters“ in Elberfeld.
Helene Weber gehörte zu den Parlamentariern und wenigen (vier) Frauen, die 1949 das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland verabschiedeten.