90 Wuppertaler Jahre Als Vohwinkel nicht mehr Teil Wuppertals sein wollte
Der Stadtteil beantragte 1960 die Ausgemeindung – mit Hilfe eines hochrangigen NS-Täters.
Es klingt heute wie eine lokalpatriotische Posse, aber damals war es heiliger Ernst. Ende 1960 beantragte die „Arbeitsgemeinschaft der Bürgervereine Wuppertal-Vohwinkel“ beim Innenminister des Landes NRW die Ausgliederung des Stadtteils aus der Stadt Wuppertal und die „Neubildung einer Stadt Vohwinkel“. Der bis 1929 selbständige Ortsteil im Westen, von jeher auf Eigensinn bedacht, sah sich „von der Stadt Wuppertal schlechter noch als ein Stiefkind behandelt“ und beklagte, dass er trotz der 33 000 Einwohner weder ein eigenes Schwimmbad noch ein Krankenhaus oder gar eine wichtige Kommunal- oder Landesbehörde vorzuweisen habe. Alles „finde sich nur in Elberfeld und Barmen“ hieß es etwas säuerlich. Als Motor dieses lebhaft diskutierten und umstrittenen Sezessionsbegehrens firmierte der pensionierte Schulrektor Julius Peckhaus, der, je nach Lager, als „Querulant“ oder als „Idealist“ bezeichnet und von vielen Zeitgenossen als „König von Vohwinkel“ tituliert wurde.
Als weniger auffällig und schillernd galt dagegen der Rechtsanwalt Friedrich Bosshammer, in dessen Vohwinkler Kanzlei an der Kärntner Straße 13 der Antrag aus Ausgemeindung juristisch vorbereitet, formuliert und von diesem „im Auftrag“ unterzeichnet worden war. Zwar kursierten zahlreiche Gerüchte, er sei ein „hohes Tier in der SS“ gewesen: mehr und genaueres wollte man im persönlichen und gesellschaftlichen Umfeld des als gesellig geltenden Bosshammer wohl aber nicht in Erfahrung bringen. Diesen unbequemen Mühen unterzog sich erst die „Zentrale Stelle der Landesjustizverwaltungen zur Aufklärung nationalsozialistischer Verbrechen“ in Ludwigsburg. Diese hatte 1963 erste Vorermittlungen im Zusammenhang der Beteiligung Friedrich Bosshammers im Zusammenhang der Deportationen der Juden aus Italien 1943/44 eingeleitet. Sie führten schließlich im Januar 1968 zur Verhaftung des Juristen in seiner Kanzlei. Die TV-Abendnachrichten berichteten darüber. Nach einjähriger Verhandlungsdauer sprach ihn das Berliner Kammergericht Mitte 1972 als eines „mit Hitler, Himmler und Eichmann gemeinschaftlich handelnden Mittäters wegen vorsätzlichen Mordes schuldig“ und verurteilte ihn zu einer lebenslangen Haft.
Bosshammers Wuppertaler Existenz belegt anschaulich, wie leicht es vielen schwerstbelasteten NS-Verbrechern fiel, nach 1945 gesellschaftlich wieder schnell und erfolgreich Fuß zu fassen. Dabei halfen ihm ein von den Behörden nur halbherzig und unter Druck durchgeführtes Entnazifizierungsverfahren, ein Netzwerk gut funktionierender Beziehungen, aber ebenso das auf Schuldabwehr und kollektive Entlastung zielende gesellschaftliche Bewusstsein in Politik und Gesellschaft.
Friedrich Bosshammer gehörte zu den engsten und ehrgeizigsten Mitarbeitern von Adolf Eichmann, der seit 1941 im Berliner Reichssicherheitshauptamt (RSHA) maßgeblich die Deportation der Juden aus Europa in die Vernichtungslager organisierte. 1906 in Opladen geboren, studierte er unter anderem in Heidelberg Staats- und Rechtswissenschaften. Da er die erst im zweiten Anlauf absolvierte große Staatsprüfung nur mit „ausreichend“ bestand, blieb ihm der angestrebte Richterberuf verwehrt. Karriere machte das aus der Kirche ausgetretene NSDAP- und SS-Mitglied dann aber beim Sicherheitsdienst der SS (SD), zunächst als „Referent für Judenfragen“ und als Gerichtsoffizier. Zum Mitarbeiterstab Eichmanns im RSHA kam er Anfang 1942, nach der berüchtigten „Wannsee-Konferenz“, auf der die geplante Deportation von rund elf Millionen Juden aus Deutschland und den von Deutschland besetzten oder mit ihm kooperierenden Ländern Europas behördlich abgestimmt wurde und schon erste organisatorische Vorbereitungen getroffen worden waren.
Für die Umsetzung dieses monströsen Verbrechens benötigte das RSHA u.a. verwaltungsjuristisch erfahrenes Personal, das als so genannte „Judenberater“ in den jeweiligen Ländern tätig werden sollte. Bosshammer war einer von ihnen.
Das Eichmann-Referat „IV B 4“ koordinierte diesen staatlich betriebenen Massenmord. Bosshammer, inzwischen Regierungsrat im Rang eines SS-Obersturmbannführers, war dort ab Januar 1944 für die Deportation der italienischen Juden verantwortlich. Von Verona aus organisierte er den Neuaufbau eines Systems zur Erfassung, Konzentrierung und Verschleppung, führte regelmäßig Inspektionen der Sammellager durch, erstellte eigenhändig Transportlisten und überwachte sogar die Rekrutierung der Zugbegleitkommandos. Bosshammers Radikalität übertraf sogar die Eichmanns. Unter seiner Federführung wurden auch die bis dahin verschonten „Judenmischlinge“ sowie die Partner aus „Mischehen“ deportiert. Sieben Transporte mit rund 4700 jüdischen Frauen, Männern und Kindern sind unter seiner Regie in das Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau abgeschickt worden. Überlebt haben nur wenige.
Nach der Entlassung tauchte er unter falschem Namen auf
Auf der Flucht aus Italien geriet Bosshammer bei Kriegsende kurzzeitig in amerikanische Kriegsgefangenschaft. Nach seiner Entlassung tauchte er unter falschem Namen in Wuppertal unter und arbeitete als Hilfsarbeiter. Als die Tarnung auffiel, wurde er verhaftet, von der britischen Besatzungsmacht interniert und von einem Spruchkammergericht 1948 zu einem Jahr Haft verurteilt. Mit Hilfe seines Wuppertaler Rechtsanwalts war es ihm gelungen, seine aktive Mitwirkung bei der Deportation in Italien zu verschleiern und sich als unbedeutenden Beamten im RSHA zu präsentieren. Nützlich waren dabei die zahlreich aus einem Umfeld stammenden Leumundszeugnisse („Persilscheine“), so von einer mit ihm befreundeten Wuppertaler Ärztin und seinem ehemaligen Pfarrer. Diese beschrieben ihn als „herzensgut“ und als „charakterlich einwandfreien und gerecht empfindenden Menschen“. In seiner Urteilsbegründung betonte das Spruchkammergericht zudem sein „anständiges männliches Wesen“ und resümierte: „Trotz seiner früheren Tätigkeit kann nicht bezweifelt werden, daß er beim Aufbau eines freien Deutschland seine Kraft einsetzen wird.“ Sein anschließendes Entnazifizierungsverfahren in Wuppertal war deshalb nur eine Formsache und endete mit der Einstufung Bosshammers als „Mitläufer“. Schon 1952 erwirkte er beim Wuppertaler Amts- und Landgericht seine Zulassung als Rechtsanwalt. Seine erste Kanzlei eröffnete der einstige „Judenberater“ Eichmanns zunächst in der Platzhoffstraße 2, im Haus seines Schwagers, der später zum Chefarzt am Bethesda-Krankenhaus aufstieg. Einer Rückkehr in die Normalität und dem beruflichen Neustart stand also nichts mehr im Wege. Befürchtungen, noch einmal juristisch belangt zu werden, hegte Bosshammer offenbar nicht.
Neue Aktenfunde führten dann 1963 zu ersten Ermittlungen. Sie mündeten 1971 in eine 600 Seiten umfassende Anklageschrift, in der die Staatsanwälte akribisch Erkenntnisse aus NS-Dokumenten, Aussagen von 150 Zeugen und den Gutachten von Historikern aus Deutschland und Italien zusammengetragen hatten. Wie schon im Spruchkammerverfahren von 1948, versuchte Bosshammer sich als unschuldigen und unwissenden Befehlsempfänger zu inszenieren. Das entsprach ganz dem damals gängigen Bild eines „funktionalistischen Schreibtischtäters“ mit wenig Verantwortung und Eigeninitiative. Diese Selbstdarstellung wurde allerdings durch die geschickte Beweisführung der Staatsanwaltschaft regelrecht zerpflückt. Die Richter sahen es als erwiesen an, dass sich Bosshammer mit besonderem Eifer und „Radikalität in der Behandlung der Judenfrage“ hervorgetan, sich „den in der nationalsozialistischen Weltanschauung innewohnenden Rassenhass“ zu eigen gemacht und als Initiativtäter mit eigenem Entscheidungsspielraum gehandelt hatte. Solche klaren Urteile sind die Ausnahme. Die große Mehrheit der an den Mordaktionen beteiligten Personen wurden lediglich als Tatgehilfen zu Haftstrafen von unter zehn Jahren verurteilt.
Im Dezember 1972, ein halbes Jahr nach Verkündung der lebenslangen Haft, verstarb Bosshammer an den Folgen eines Gehirnschlags. Die Trauerfeier fand in der vollbesetzten Kapelle des evangelischen Friedhofs an der Ehrenhainstraße statt. Geleitet wurde sie von seinem Berliner Gefängnisseelsorger, der den Verstorbenen in seiner (als Redetext verteilten) Ansprache als einen tiefgläubigen und sensiblen Menschen bezeichnete, der in ungerechtfertigter Weise das Opfer von Staatsanwälten geworden war, die altersbedingt „das damalige Geschehen nicht verstehen und nachempfinden können“. Viel war in dieser Rede auch von Gottes Gnade und den Bomben auf deutsche Städte zu hören. Wörter wie Schuld und Verantwortung oder gar eine Geste des Mitgefühls für die von Bosshammer in den Tod geschickten Menschen sucht man darin allerdings vergebens. Wie die Reaktion der vielen Trauergäste ausfiel, ist nicht überliefert.