Gastbeitrag Der Leidensweg der Brüder Hans und Ernst Siegel aus Barmen

Wuppertal · Eine umfangreiche Sammlung von Briefen dokumentiert ihr Leben im KZ.

Erkennungsdienstliche Fotos des Konzentrationslagers Auschwitz von Hans Siegel.

Foto: Begegnungsstätte Alte Synagoge Wuppertal

In dichter Folge wird zurzeit von den Feierlichkeiten berichtet, die an Orten einstiger NS-Konzentrationslager stattfinden. Der 80. Jahrestag der Befreiung ist für die hochbetagten Überlebenden von allergrößter Bedeutung. Darum nehmen sie, sofern sie noch genügend bei Kräften sind, die Strapazen einer oft weiten Reise auf sich, um am Ort des Terrors als Ehrengast an der Zeremonie in Buchenwald oder Mittelbau-Dora teilzunehmen. Es sind nur noch Einzelne, die von ihrer Befreiung berichten können. Die allermeisten ihrer Kameradinnen und Kameraden sind längst gestorben.

Die Befreiung aus der Lagerhaft zu überleben, war indes nur wenigen möglich. Den Brüdern Hans und Ernst Siegel aus Barmen ist das nicht gelungen. Im Archiv der Begegnungsstätte Alte Synagoge zeugt eine ungewöhnlich umfangreiche Sammlung von Briefen aus dem Nachlass des Historikers Ulrich Föhse vom Leidensweg der beiden.

Hans, 1920 geboren, und sein ein Jahr jüngerer Bruder Ernst, mussten erleben, wie ihr Vater im November 1938 im Zusammenhang mit den antijüdischen Gewaltaktionen verhaftet und erst ungewöhnlich spät, Mitte Februar 1939, wieder aus dem Konzentrationslager Dachau entlassen wurde und zu seiner Familie nach Barmen zurückkehren konnte. Dort lebte die Familie auf der „Allee“, die mittlerweile längst „Adolf-Hitler-Straße“ hieß. Manfred Siegel musste nun Zwangsarbeit verrichten, wurde dort aber denunziert und erneut verhaftet. Er kam zunächst in das Konzentrationslager Buchenwald, später nach Sachsenhausen, wo er im Januar 1943 umkam, 50 Jahre alt.

Zum selben Zeitpunkt hatte es die Polizei auf seine Söhne Hans und Ernst abgesehen, die Verdacht auf sich gezogen hatten, weil sie sich mit Freunden und Freundinnen „unangepasst“ verhielten. Sie brachten kein Interesse für die Hitler-Jugend auf, sondern organisierten ihre Freizeit lieber selbst: Mit Freunden zusammen sein, Musik machen, mit dem Faltboot auf der Wupper fahren, zelten. Ihre größte Schwachstelle: Sie hatten einen jüdischen Vater.

Im Mai 1943 wurden beide in das Konzentrationslager Auschwitz überstellt. Von dort schrieben sie alle 14 Tage regelmäßig Briefe, voller Sorge um die Mutter und um die kleine Schwester Anneliese, mit Ratschlägen und Bitten, mit verschlüsselten Nachrichten aus dem Lageralltag und voller Hoffnung auf ein Wiedersehen.

Nach der Offensive der Roten Armee im Januar 1945 sollten die Konzentrationslager geräumt werden. Im Februar wurde die Ankunft der Brüder Siegel in Mittelbau-Dora registriert, nachdem sie bei bitterster Kälte in offenen Waggons und ohne Nahrung und Wasser unterwegs gewesen waren. Manche der rund 17 000 Deportierten waren bereits gestorben und fielen beim Öffnen der Türen steifgefroren aus den Waggons.

Mittelbau-Dora, das als letztes der Konzentrationslager 1943 als Produktionsstätte der vermeintlichen Wunderwaffe „V2“ in einem Stollensystem bei Nordhausen in Thüringen eingerichtet worden war, wurde nun zu einem Sterbelager. Allein in den ersten Monaten des Jahres 1945 starben über 5000 Menschen in Mittelbau-Dora oder auf Transporten in andere Konzentrationslager. Hans und Ernst Siegel müssen schrecklich gelitten haben, wenn sie der Mutter schrieben:

Aber leider ist es hier längst nicht so gut wie in unserem alten Heim. Das Essen ist so knapp, dass der Magen Tag und Nacht knurrt, und jeder hat den einen Wunsch, recht bald wieder in ein großes Heim zu kommen. Gott sei dank haben wir in Aus gut gelebt, sodass wir noch recht viel aushalten können.

Die Postkarten mussten
die Lagerzensur passieren

„Unser altes Heim“ – damit war das Konzentrationslager Auschwitz gemeint, in dem die Brüder über eineinhalb Jahre gelebt hatten. Dort hätten sie „gut gelebt“ – eine Formulierung, die man aus heutiger Sicht kaum fassen kann, die aber eine Ahnung vom Ausmaß der Leiden vermittelt, das erst nach der Zeit in Auschwitz begann.

Nur noch wenige Postkarten sind erhalten, und diese wenigen mussten die Lagerzensur passiert haben. Das gelang nur, wenn in den Schreiben nichts Kritisches, nichts Belastendes stand. Aber auch die Häftlinge selbst wollten ihre Angehörigen nicht in Sorge versetzen und stellten die Verhältnisse darum oft harmloser dar, als sie in Wirklichkeit waren. Die letzten Lebenszeichen von Hans und Ernst Siegel stammen vom Sonntag, den 18. März 1945:

Meine liebe Mutter und Anneliese, ich wünsche Euch ein recht gutes Osterfest und hoffe, dass Ihr alle, meine liebe Mutter und Anneliese, noch gesund seid und auch annehme, dass es Euch sonst auch so weit gut geht. Mir selbst geht es gesundheitlich so weit gut, was ja wohl auch die Hauptsache ist. Ich würde mich sehr freuen, bald eine Nachricht von Euch zu bekommen. Habt Ihr unsere letzten Karten vom 25.2. nicht erhalten wir warten noch immer auf Antwort Derselben. Wenn es Euch möglich ist, sendet bitte wieder Pakete wie früher, wir können Dieselben in jeder Zahl und Menge erhalten. Empfangt nun für heute die allerherzlichsten Ostergrüße u. Küsse Hans und Ernst.

Am 3. April 1945 wurde das Lager von alliierten Bomberverbänden angegriffen und schwer getroffen. Die Häftlinge hatten keine Schutzräume zur Verfügung. Nun wurden sie in „Todesmärschen“ evakuiert. Ernst Siegel gelangte auf diesem Weg in das Lager Bergen-Belsen, wo er am 15. April 1945 durch Soldaten der Britischen Armee zwar befreit wurde, aber am 25. Juni 1945 den Folgen von Hunger, Erschöpfung und Misshandlung erlag. Die Spur seines Bruders verliert sich. Sehr wahrscheinlich ist Hans Siegel in der Anonymität der Todesmärsche zugrunde gegangen, wurde erschlagen oder erschossen.