Vergangenheit „Ich bin nie wieder richtig Kind gewesen“

Eleonore Lubitz (65) hat in einer Kinderkur Gewalt erlebt und kämpft bis heute mit den Folgen – sie plant eine Selbsthilfegruppe in Wuppertal.

Eleonore Lubitz sucht Menschen, die wie sie schlechte Erfahrungen bei einer Kinderkur gemacht haben.

Foto: Andreas Fischer

Eine Knieoperation brachte Eleonore Lubitz (65) vor knapp einem Jahr in eine Reha-Klink nach Bad Sassendorf bei Soest. Einen Ort, den sie mit unguten, aber inzwischen undeutlichen Erinnerungen an eine Kinderkur verband. Die Zeit im Krankenbett nutzte sie zur Internet-Recherche. Und erfuhr zum ersten Mal, dass sie nicht die Einzige war, die Schlimmes in der Kinderkur erlebt hat.

„Plötzlich habe ich gemerkt, dass ich nicht allein bin, sondern andere das gleiche Schicksal haben“, erzählt die Schwelmerin, die das Thema im Bergischen bekannter machen will. „Da wurde ich schwer sauer.“ Und fing an, alles zu lesen, was sie dazu finden konnte.

Vor der Einschulung fuhr Eleonore Lubitz zur Kinderkur.

Foto: Andreas Fischer

Nach Angaben des „Arbeitskreises Verschickungskinder NRW“ gibt es rund drei Millionen Kinder mit NRW-Bezug, die zwischen 1950 und 1990 in sogenannte Kinderkuren verschickt wurden, bundesweit seien es mindestens zehn Millionen Kinder gewesen. Sie sollten nach sechs Wochen gesund und gut ernährt nach Hause kommen, doch bei vielen sei das Gegenteil der Fall gewesen: Betroffene berichteten von Gewalterfahrungen und demütigenden Behandlungen, von Toilettenverboten in der Nacht, Bloßstellen nach Einnässen, dem Zwang, Erbrochenes aufzuessen, sogar von Medikamentenmissbrauch und sexueller Gewalt. Viele hätten lange gedacht, sie seien die einzigen, denen so etwas passiert ist. Erst seit wenigen Jahren wird das Schicksal der „Verschickungskinder“ thematisiert, werden Erlebnisberichte gesammelt und erste Studien dazu gemacht.

Eleonore Lubitz hatte auch vieles verdrängt, musste tief in ihrem Gedächtnis kramen. Ihre Eltern leben nicht mehr, die sie hätte fragen können. Sie weiß, dass der Arzt bei der Untersuchung vor der Einschulung erklärt hat, sie sei zu schmächtig, müsse in eine Kur – sonst werde sie ein Jahr zurückgestellt. Das hat ihre Eltern wohl motiviert, zuzustimmen.

Ihr ist erzählt worden, dass die beim Abschied in ihrer Heimatstadt Hagen voller Abenteuerlust zu den anderen Kindern in den Zug stieg, bei der Rückkehr weinend in die Arme der Mutter stürzte. Erzählt habe sie aber wenig von den Erlebnissen. „Sie sagten, sie hätten seitdem ein fremdes Kind gehabt. Ich bin nie wieder richtig Kind gewesen.“ Seitdem trage sie immer eine Last mit sich, einen inneren Schrei nach Hilfe, sei ständig angespannt, habe ein gestörtes Verhältnis zum Essen und Probleme, Beziehungen aufzubauen. Nachts muss im Nebenzimmer Licht brennen, weil sie Angst hat, jemand könnte plötzlich mit Taschenlampe am Bett stehen. Auch ihre Konzentrationsschwierigkeiten und Blackouts bei Stress führt sie inzwischen auf die Erlebnisse während der Kinderkur zurück.

Dazu gehört etwa, dass ihr eine Packung Kaugummi gleich bei der Ankunft weggenommen wurde, obwohl sie erklärte, dass ihr Zahnarzt das Kaugummi für die Kräftigung des Kiefers verordnet hatte. „Ich hatte Angst, ich werde krank, weil sie mir die Medizin weggenommen haben.“ Beim Essen wurde ihnen versprochen, wenn alle brav seien, werde ihnen später eine Geschichte vorgelesen. „Das ist nie passiert. Immer hat jemand mit den Füßen gezappelt, etwas nicht aufgegessen, sich erbrochen.“ Sie selbst habe sich geschworen, nie zu erbrechen, was ihr gelang. Obwohl sie Kochkäse und Blutwurst nicht mochte.

Sie esse heute immer noch schnell, schlinge förmlich, weil damals denen der Nachtisch weggenommen wurde, die zu langsam waren. Sie erinnert sich, dass nächtliches Reden damit bestraft wurde, dass man auf dem kalten Flur stehen musste, dass eine Betreuerin ihre Strumpfhose vor den anderen Kindern in die Luft hielt, nachdem sie nicht einhalten konnte. Und dass sie ständig bei der Oberin war, weil sie nicht brav genug war.

Das Schlimmste aber seien die Sole-Bäder gewesen. In Holztrögen voller Salzwasser mussten die Kinder eine Weile stehen, die kleinen ohne Bodenkontakt mit den Armen über den Rändern hängen. Sie durften nicht reden und sich nicht bewegen. Wer sich nicht daran hielt, bekam zunächst Sole ins Gesicht gespritzt. „Das war ekelhaft und brannte in den Augen.“ Wer sich nach mehreren solchen Verwarnungen nicht an die Regeln hielt, wurde mit dem Kopf unter Wasser gedrückt. „Das war Waterboarding! Ich erinnere mich, wie ich gezappelt habe“, erzählt Eleonore Lubitz und macht die verzweifelten Armbewegungen nach. Nach den Sole-Bädern wurden sie per Schlauch abgespritzt. Bei Ungehorsam mit einem so harten Strahl, dass es schmerzte.

Die Wiederentdeckung dieser Erinnerungen war ein Schock und hat sie aufgewühlt. Aber sie hat auch gemerkt, dass es sie erleichtert, dass sie heute darüber reden kann – mit Menschen, die ähnliches erlebt haben. Und merkt in vielen Gesprächen, dass jemand sagt: „Ich auch.“ „Ich möchte das publik machen“, sagt sie. „Damit sich bei denen, die auch diesen Kummer haben, etwas lösen kann.“ Daher will sie eine Selbsthilfegruppe gründen. Weil es in Wuppertal bereits einmal eine solche Gruppe gegeben hat, hofft sie, hier und in der Umgebung genug Interessenten zu finden.