Helge Lindh: „Quereinsteiger und Unangepasste schaden Politik nicht“

Der Wuppertaler SPD-Politiker im WZ-Gespräch über die Regierungsbildung und seinen Einstieg in Berlin.

Foto: Stefan Fries

Bei der Bundestagswahl setzte sich Helge Lindh (SPD) am 24. September im Wahlkreis Wuppertal I knapp gegen den CDU-Kandidaten Rainer Spiecker durch. Seitdem wartet der Neuling im Bundestag darauf, dass sich eine Bundesregierung bildet und die Politische Arbeit in den Ausschüssen beginnt. Herr Lindh, wer regiert mit wem und ab wann?

Helge Lindh: Dass die Regierungsbildung schwierig wird, kann sich jeder ausrechnen, denn die früheren Drei-Parteien-Verhältnisse gibt es in dieser Form nicht mehr. Ob es zu einer Großen Koalition oder einer anderen Form der Zusammenarbeit zwischen CDU/CSU und der SPD wie etwa neuen Kooperationsmodellen oder einer Minderheitsregierung kommt, ist völlig offen. Auch eine Neuwahl würde ich nicht ausschließen. Wir müssen endlich über die brennenden konkreten Fragen dieses Landes sprechen. Taktische Manöver, Selbstbeschäftigung und Farbspiele dürfen nicht im Mittelpunkt stehen. Grundsätzlich hat die SPD immer den Anspruch, politisch zu gestalten und Regierungsverantwortung zu übernehmen, sofern es inhaltlich tragbar und verlässlich ist. Eine wichtige Entscheidung fällt am 21. Januar beim Bundesparteitag der SPD. Sie haben zum ersten Mal den Sprung in den Bundestag knapp geschafft. Da wünscht man sich sicher nicht gleich wieder Neuwahlen?

Lindh: Das ist der falsche Ausgangspunkt. Es ist nicht entscheidend, welches Szenario meiner Befindlichkeit am besten entspricht. Auch die SPD sollte ihr Handeln nach den inhaltlichen Gründen ausrichten und nicht nach dem aktuellen Befinden der Partei. Regierung bedeutet viel mehr Einflussmöglichkeiten. Opposition wirkt in gewisser Hinsicht einfacher, man kann Dinge fordern, die man nicht in mühsamen Kompromissen umsetzen muss. Neuwahlen wären aber sicher der letzte Schritt. Das sieht jeder Abgeordnete so, denn die Wähler haben bereits ihre Stimme abgegeben, ein weiterer Wahlkampf wäre teuer und würde die ehrenamtlichen Helfer erneut enorm fordern. Die Entscheidung liegt aber nicht bei einer einzelnen Partei.

In Wuppertal gibt es seit vielen Jahren eine stabile Große Kooperation, Groko genannt, von SPD und CDU. Ist das ein nachahmenswertes Modell?

Lindh: Auf der kommunalen Ebene ist es sicher eine legitime und je nach Konstellation sinnvolle Form, aber der Stadtrat ist nicht wie die Bundesregierung gesetzgebend tätig. Daher wäre der Ausdruck Koalition auch unangemessen. Im Bundestag ist eine solche Regierungsform leichter angreifbar. Eine Große Kooperation setzt ein großes Vertrauen und eine hohe Frustrationstoleranz gegenüber Meinungsunterschieden voraus, das macht es sehr schwer. Es gibt keine gewachsene Kultur für solch ein Modell, das wäre ein Testlauf. Die Wahrscheinlichkeit ist nicht sehr groß, denn Frau Merkel gilt nicht als extrem experimentierfreudig. Man kann es allerdings auch über einen wesentlich schlankeren Koalitionsvertrag als beim letzten Mal versuchen. Das ist eine ernsthafte Alternative. Die Wirklichkeit diktiert die Themen. 2013 stand im Koalitionsvertrag zum Beispiel kein Wort über die Flüchtlingspolitik, die dann das wichtigste Thema wurde.

Was ist an parlamentarischer Arbeit möglich, wenn Sie bis jetzt nicht wissen, ob Sie Regierungspolitik betreiben oder der Opposition angehören?

Lindh: Da noch keine Ausschüsse besetzt worden sind, gibt es innerhalb der Partei den regelmäßigen Austausch in Arbeitsgruppen. Ich habe mir die Themen Kommunales, Integration und Rechtsextremismus ausgesucht. Was die Ausschüsse betrifft: Ich bin offiziell in der SPD-Fraktion dem Innenausschuss zugeordnet und zusätzlich auch Kultur, aber die abschließende Besetzung entscheidet sich erst Ende Januar. Wie haben Sie sich im Politikbetrieb eingelebt?

Lindh: Ich habe eine Ein-Zimmer-Wohnung in Kreuzberg gefunden, die bietet einen gewissen gesunden Abstand zum Regierungsviertel. Den drei Mitarbeitern meines Büros, das dem von Martin Schulz schräg gegenüber liegt, habe ich schon Wuppertal gezeigt und sie überzeugt, dass meine Heimatstadt zumindest die zweitschönste Stadt nach Berlin ist. Wenn nichts in Berlin ansteht, dann bin ich aus Überzeugung in meinem Wahlkreis in Wuppertal. Ich war und bin für alle Anliegen ansprechbar und erreichbar, vor der Wahl und nach der Wahl, und habe deshalb ja auch meine Handy-Nummer auf den Plakaten veröffentlicht. Es gibt massive Probleme wie die hohe Langzeitarbeitslosigkeit, erst recht angesichts der vorläufigen Haushaltsführung im Bund, gerade weil die Stadt große finanzielle Probleme hat. Dass 20 bis 30 Prozent der Eingliederungsmittel zurückgefahren werden sollen und damit Maßnahmen wegbrechen, ist für Wuppertal ein bedeutendes Thema. Ich möchte mich außerdem unter anderem für den Abbau der Altschulden einsetzen oder für die Fortführung der Pläne für das Pina-Bausch-Zentrum. Beides kann nur mit Hilfe des Bundes gelingen. Vor Ihrer Wahl in den Bundestag waren sie weder Mitglied in einem Stadtrat noch im Landtag. Sind Sie als Quereinsteiger so etwas wie ein politischer Paradiesvogel in Ihrer Partei?

Lindh: Quereinsteiger und Unangepasste schaden der Politik nicht. Generell tun sie der politischen Landschaft gut. Ich war in Wuppertal schon seit Jahren ohne Ratsmandat Vorsitzender des Integrationsrates, das ist sicher eine ungewöhnliche Konstellation. Quereinsteiger? Nun, in den fünf Jahren als wissenschaftlicher Mitarbeiter im Büro der Landtagsabgeordneten Dietmar Bell, Andreas Bialas und Josef Neumann habe ich die Abläufe en détail kennengelernt, das ist eine gute Schule. In der Fraktionsarbeit werde ich mich nicht mit Überlegungen belasten, wie dieser oder jener Beitrag von mir ankommen könnte. Ich bin nicht fürs Schweigen gewählt worden. Als direkt gewählter Abgeordneter bringe ich mich ganz offensiv ein. Das ist von der Fraktionsvorsitzenden und anderen Fraktionsspitzen auch bisher sehr positiv gewürdigt worden. Da fühle ich mich als Einsteiger sehr frei.

Werden Sie ein leidenschaftlicher Parlamentarier sein?

Lindh: Ich bin leidenschaftlicher Politiker und werde immer ein leidenschaftlicher Parlamentarier sein. Bisher habe ich an fünf Sitzungen im Bundestag teilgenommen. Das Parlament muss endlich wieder zum zentralen Ort der politischen Kontroversen und Positionen werden. Ich habe den Eindruck, dass die Beteiligung wieder zunimmt, da die anderen Parteien der AfD nicht das Feld überlassen wollen. Ein Parlament ohne Erdung bei den Bürgern, also den Auftraggebern, ist aber blutleer. Politik hat ihren Sitz im Wahlkreis, sprich: im Leben, nicht in Papieren. Das ist nicht nur meine Pflicht, das ist mein Auftrag. Ich brauche als Parlamentarier diesen Bürgerkontakt wie die Luft zum Atmen.