Schauspieler befragen die Erinnerung

Henri Hüster inszeniert Thomas Melles „Bilder von uns“ im Theater am Engelsgarten.

Foto: Wuppertaler Bühnen

Wuppertal. Der Schleier der Erinnerung deckt die Vergangenheit zu. Wie kann man diesen Gedächtnis-Schleier auf die Bühne bringen? Genial einfach ist die Lösung, die Henri Hüster für seine Inszenierung von Thomas Melles „Bilder von uns“ findet. Auf der Bühne des Wuppertaler Schauspiels reicht ein halbtransparenter Vorhang. Durch ihn kann man die Schauspieler nur als schemenhafte Gestalten ausmachen. Sie bilden einen Chor, der die Erinnerung vielstimmig befragt.

Eine starke Szene. Zum Drama wird sie, als ein Einzelner das Kollektiv verlässt. Schauspieler Stefan Walz zieht den Gedächtnis-Vorhang weg — schnell, energisch, rücksichtslos. In „Bilder von uns“ ist er der erfolgreiche Journalist Jesko. Walz gibt ihm die Statur eines Riesen, scheinbar unverwundbar. Ein Foto zerstört Jeskos Leben. Der nackte Junge auf dem Bild ist er selbst. Walz spielt seine Körperlichkeit aus, windet sich, zittert. Bloß kein Opfer sein - daran klammert sich Jesko. Also macht er sich auf die Suche nach der Quelle des Fotos und trifft auf die früheren Mitschüler aus dem katholischen Internat.

Während sich nach und nach ein Abgrund aus sexuellem Missbrauch durch Priester und Lehrer auftut, muss jeder der Betroffenen einen Umgang mit der Wahrheit finden. Da gibt es den, dem der Erkenntnisschock eine neue Sprache verleiht. Mit Leidenschaft spricht Konstantin Rickert von „Aufklärung“ - und steigert sich in einen beeindruckenden Wutanfall hinein, als seine Mitspieler die Wahrheit leugnen. Die stärkste Leistung neben Walz zeigt Alexander Peiler. Wie ein Gott posiert er auf dem Brunnen, den Ausstatterin Hanna Rode in die Bühnenmitte gestellt hat. Als er hinabsteigt, gibt er sich als gebrochener und verzweifelter Mensch zu erkennen.

Die drei Schauspielerinnen bringen den Blick von außen und noch mehr Spannung. Besonders Lena Vogt als Jeskos Ehefrau. Genau beobachtet sie die Veränderungen, die Stefan Walz durchläuft, fühlt mit ihm und ist dennoch machtlos. Für helle und witzige Momente im Drama sorgt eine temperamentvoll agierende Julia Reznik. Atemberaubend wächst die Bedeutung von Philippine Pachls Rolle.

Am Ende entpuppt sich ihre Perspektive auf die Vergangenheit als die alles entscheidende. „Das Authentische ist ohne Kunstform gar nicht möglich“, liest man im Programmheft zu „Bilder von uns“. Diesen Satz von Autor Thomas Melle setzt Regisseur Hüster konsequent um. Der Verzicht auf schlichten Realismus zeigt sich schon an den von Sylvana Seddig choreografierten Auftritten des Sprechchors. Hinter großen, bunten Masken verstecken sich die Schauspieler und scheinen ihr Trauma auszuleben - so wild und zuckend ist ihr Maskentanz. „Es gibt keine Erlösung“, heißt es in „Bilder von uns“. Das gilt sicher auch für die unzähligen missbrauchten Schüler des Bonner Aloisius-Kolleg.

Ihre Erlebnisse hat Melle, selbst ehemaliger Kolleg-Schüler, zur Basis seines Stücks gemacht. Bei den Proben zog Henri Hüster auch Ebba Hagenberg-Milius Buch „Unheiliger Berg“ heran. Hagenberg-Miliu, die den Missbrauch in Bonn aufdeckte, saß unter den Premierengästen im voll besetzten Theater am Engelsgarten. Die Journalistin lobte „Bilder von uns“, kritisierte aber im Namen der realen Opfer die bundesweite Berichterstattung vor der Wuppertaler Premiere. „Sie fühlen sich verletzt, dass der Fokus der Journalisten auf der Täterorganisation liegt.“ Gerade bei einem Stück, das die Opfer ins Zentrum rücke.

“ Bilder von uns“ ist am 20. Oktober im Theater am Engelsgarten zu sehen. Es folgen Aufführungen am 22., 27. und 29. 10. sowie am 5. und 17.11. Tickets unter kulturkarte-wuppertal.de