Soziales Spendenaktion soll einem Wuppertaler ALS-Erkrankten ein Auto für mehr Flexibilität im Alltag finanzieren

Wuppertal · Sein großer Traum ist Istanbul: Der 51-jährige Taner Girgin hat die Nervenkrankheit ALS.

Sanela Hasic und Taner Girgin halten zusammen.

Foto: ANNA SCHWARTZ

„Guten Abend. Das ist doch ganz leicht“, sagt Taner Girgins Sprachcomputer zur Begrüßung. Mithilfe seiner Augen hat der 51-Jährige die Nachricht kurz zuvor „getippt“ – sehr zum Erstaunen der Besucher, die im Wohnzimmer des Hauses in Langerfeld stehen und sich fragen, wie das funktioniert. Mit den Augen fixiert er dabei die Buchstaben auf einer Tastatur des Bildschirms vor ihm. Und im Schreiben mit seinen Augen hat Taner Girgin mittlerweile sehr viel Übung. Vor zehn Jahren bekam der Vater von zwei erwachsenen Kindern die Diagnose ALS – Amytrophe Lateralsklerose, einer Erkrankung, die zur Muskellähmung führt. Seit neun Jahren nutzt er den Sprachcomputer.

„Stellen Sie sich hier hin, dann kann Taner Sie sehen“, sagt seine Lebensgefährtin Sanela Hasic und deutet auf einen Punkt schräg vor ihm. Sich bewegen, essen, selbstständig atmen oder sprechen kann Taner Girgin nicht mehr. Aber lächeln – das tut er viel. Er und Sanela Hasic sind ein eingespieltes Team, verstehen sich auch ohne Worte. „Augenbrauen hochziehen heißt ‚Nein‘, zwinkern heißt ‚Ja‘“, erzählt Sanela Hasic. „Richtig, Taner?“ Taner zwinkert.

Mit sechs Jahren kam Taner Girgin aus der Türkei nach Deutschland, ist aber ein echtes Ronsdorfer Kind, wie Sanela Hasic beschreibt. Bis vor drei Jahren hat er auf den Südhöhen gelebt, dann zog es ihn nach Langerfeld. 25 Jahre lang war er als Kfz-Mechaniker bei den Wuppertaler Stadtwerken beschäftigt, schraubte viel und reparierte Busse. Noch heute kennt er die „Problemkinder“ unter den Fahrzeugen. „Wenn wir gemeinsam Bus fahren, signalisiert Taner mir, dass er den Bus kennt“, sagt Sanela Hasic.

Im Sommer 2013 bekam er plötzlich Schwierigkeiten mit der Feinmotorik. Er konnte den Kugelschreiber nicht mehr halten oder den Schraubenzieher. Es wurde nicht besser, also ging Taner Girgin zum Arzt. Der diagnostizierte bei ihm ALS. Der Verlauf: ungewiss. „Das ist wie bei Multipler Sklerose. Da gibt es auch keinen genauen Verlauf und ist bei jedem anders“, erklärt Sanela Hasic. Innerhalb weniger Monate war er auf den Rollstuhl angewiesen, übernahm bei den WSW die Büroarbeit. Sein Bruder brachte ihn zur Arbeit, die Kollegen bauten Rampen, um Höhenunterschiede in der Wohnung überwinden zu können. 2015 ging er in Rente.

Ein Tag ohne Rollstuhl,
ist ein schlechter Tag

Jeden Tag bekommt Taner Girgin nun Besuch von Therapeuten. Dann geht es für den 51-Jährigen vom Bett in den Rollstuhl. „Ein Tag ohne Rollstuhl ist ein schlechter Tag. Er ist ihm heilig“, sagt Sanela Hasic. So kann Taner Girgin am Alltagsgeschehen teilnehmen. „Ich bin freier“, gibt Taners Sprachcomputer aus. Seine Augen bewegen sich von links nach rechts und zurück: „Ich bin im Leben.“

Gemeinsam fahren Taner Girgin und Sanela Hasic zum Friseur nach Barmen und zum Zahnarzt nach Elberfeld, zum Einwohnermeldeamt und Co. – immer mit Bus und Bahn. „Wir sind gerne draußen. Natürlich lieber im Sommer“, sagt Sanela Hasic. Dann gehen sie spazieren und ins Café. „Ich will ja auch am Leben teilnehmen“, schreibt Taner Girgin in seinen Sprachcomputer. „Taner hat viele Freunde“, sagt seine Lebensgefährtin. Früher spielte er akribisch Fußball. „Ich sage immer: Mit dem Mann können Sie nirgendwo hingehen. Jeder kennt ihn“, sagt sie lachend. Taner lächelt.

Doch bei ihren Gängen vor der Haustür stehen sie vor einigen Herausforderungen. Nicht nur sind sie Wind und Wetter ausgesetzt. Bei einer Fahrt nach Brühl mussten sie mehrere Haltestellen ansteuern, weil sie nicht barrierefrei waren. Sie kehrten schließlich um. „Ein ,Geht nicht!‘ wird ganz schwer akzeptiert. Aber da stoßen wir an unsere Grenzen“, so Hasic. Urlaub machen sei schwierig. Vieles ist mit Planung verbunden – sie brauchen ein Patientenbett, einen Lifter. Im Mai sind sie mit der Bahn nach Berlin gefahren – der erste Urlaub seit Langem. „Wir lassen uns keinen Spaß nehmen“, sagt Sanela Hasic.

Auf den Führerschein
soll nun ein Auto folgen

In Wuppertal sind sie auf Transportdienste angewiesen. Für deren Hilfe sind beide dankbar. „Aber wir wollen auch mal bis zwei Uhr nachts bleiben, wenn eine Geburtstagsparty länger geht. Bisher mussten wir immer um 22 Uhr gehen, weil wir abgeholt wurden. Ich habe dem Krankentransporter gegenüber schon immer ein schlechtes Gewissen, wenn ich mal 23 Uhr heraushandle“, sagt Sanela Hasic.

Sie hat vor Kurzem den Führerschein gemacht. Die beiden wollen sich ein Auto zulegen, um endlich mehr Flexibilität zu haben. Doch selbst der Autokauf ist gar nicht so einfach: Die Fahrt bis zum Autohaus in Lüdenscheid mit Bus und Bahn ist für die beiden eine kleine Weltreise. Das Auto muss groß genug sein, um Taner Girgin im Rollstuhl unterzukriegen. Wahrscheinlich komme nur ein Transporter infrage – und der kostet. „Das sind locker 35 000 Euro“, schätzt Sanela Hasic. Geld, das sie nicht mal eben haben.

Auf der Spendenplattform „Gofundme“ haben sie deshalb eine Spendenkampagne ins Leben gerufen. Von der Resonanz sind sie überwältigt. Schon mehr als 17 600 Euro haben sie bekommen. „Da flossen bei uns die Tränen“, sagt Sanela.

Wo Taner Girgin hinmöchte, sobald das Auto da ist? „Istanbul“, schreibt er in seinen Computer. Er lächelt wieder. Warum? Ein paar Minuten vergehen. Dann sagt der Computer: „Ich bin von der Stadt begeistert.“ Das wäre dann eine dreitägige Autofahrt, aber fliegen geht nicht. Dennoch ein Traumziel für die Beiden.

Sanela Hasic möchte als Erstes die Menschen besuchen, die bei der Kampagne so hilfsbereit waren – um jedem Einzelnen zu danken. Und dann mit Freunden zum Kemnader See oder gemeinsam einkaufen fahren – Dinge eben, „die für Menschen ganz selbstverständlich sind. Die wollen wir auch machen“, sagt sie. „Ich bin nicht tot mit dieser Krankheit“, schreibt Taner. „Das Leben geht weiter.“ Ihr Leben drehe sich nicht um die Krankheit, ergänzt Sanela, die ihn vor sieben Jahren kennengelernt hat. „Taner ist ein lebenslustiger, lebensfroher und offener Mensch. Wir versuchen mit einer großen Portion Normalität unser Leben zu führen.“ Das Auto soll ihnen dabei in Zukunft helfen.