Todesängste lyrisch verarbeitet
Sechs junge Flüchtlinge aus Afghanistan erhalten Lasker-Schüler-Preis für Lyrik 2018.
Hajo Jahn hat eine Passion: „In ihren Ländern haben Poetik und Lyrik noch den Stand, die sie in Deutschland, dem Land der Dichter und Denker, einmal hatten. Indem die Flüchtlinge ihre Kultur mit zu uns und in unsere Kultur einbringen, entsteht ein Geben und Nehmen. Wenn sich diese Menschen hier gut integrieren, vielleicht doch zurückkehren, tragen sie auch etwas von unserer Kultur in ihre Länder“, wirbt der 76-jährige Wahl-Wuppertaler für einen Lyrikpreis, den er selbst vor 23 Jahren ins Leben rief, der nun an sechs junge Männer aus Afghanistan verliehen wird, die aus ihrer Heimat fliehen mussten, und der einer großen Wuppertaler Lyrikerin gewidmet ist: Else Lasker-Schüler — kurz ELS.
Wuppertal und Berlin — zwei Städte, die miteinander verwoben sind. Nicht nur, weil der Berliner Hajo Jahn in Wuppertal lebt, wo er 1990 die Else Lasker-Schüler-Gesellschaft gründete, um das Werk der 1869 in Elberfeld geborenen, in der Zeit des Nationalsozialismus verfolgten und 1945 in Palästina gestorbenen Künstlerin zu pflegen und lebendig zu erhalten. „Else Lasker-Schüler ging von Wuppertal nach Berlin, wo sie 1932 den Kleist-Preis gewann und berühmt wurde. ,The Poetry Projects’ wiederum ist ein aktuelles Berliner Projekt, und da schließt sich der Kreis“, erklärt Jahn. Die Preisträger des Else Lasker-Schüler-Preises 2018 nämlich fand Jahn über das Gedichts-Projekt der Spiegel-Redakteurin Susanne Koelbl in der Hauptstadt. Indem diese nun in Wuppertal ausgezeichnet werden, findet auch „Imagewerbung für die Stadt statt“.
Doch der Reihe nach: In den 90er Jahren wurde der ELS-Preis, der Lyrik und Poesie in Deutschland fördern soll, erstmals verliehen — gut dotiert und mit der Perspektive, alle zwei Jahre erneut vergeben zu werden. Doch auf Thomas Kling (1994) und Friederike Mayröcker (1996) folgte niemand, weil Jahn keine Geldgeber mehr fand. 2016 — „nach Betteltouren in der Tradition von Lasker-Schüler“, so Jahn — folgte der Neustart, konnte Safiye Can ausgezeichnet werden. 2018 steigt nun das Literaturbüro NRW ein, der Preis ist mit 3000 Euro dotiert und geht an Samuillah Rasouli, Ghani Ataei, Yasser Niksada, Shahzamir Hataki, Mahdi Hashemi und Kahel Kashmiri sowie ihren Übersetzer Aarash D. Spanta, weil auch er „ein Dichter ist“. Jahn erlebte die damals 14- bis 18-Jährigen beim Berliner Integrations-Projekt, stellte sie dem Vorstand der ELS-Gesellschaft vor, der sie für preiswürdig befand. In Anerkennung der „erstaunlich reifen lyrischen Schicksalsbeschreibungen“ dieser jungen Menschen, „die unter traumatischen Bedingungen ins Land gekommen sind, ihre Todesängste, Sehnsüchte und Fremdheit lyrisch verarbeitet haben“, sagt Jahn, der 1941 geboren, selbst Flucht und Heimatverlust erlebt hat, und erinnert daran, dass ELS Exilantin war, „der mit 20 minderjährige Flüchtling Willy Brandt später Karriere machte“.
Zwei Tage werden die teilweise noch minderjährigen Flüchtlinge in Wuppertal verbringen, begleitet von einem Fotografen, ihrem Übersetzer und Susanne Koelbl. Jahn wird ihnen die Stadt zeigen, wozu auch eine Fahrt mit der Schwebebahn gehört. Für Reise und Aufenthalt steht vor allem die Stadtsparkasse gerade, in deren Räumen auch die Preis-verleihung am 9. Februar stattfindet. Für die Laudatio konnte Günter Walraff gewonnen werden, OB Andreas Mucke rezitiert Werke der Preisträger. Auf den feierlichen Akt folgt am 10. Februar in der Citykirche eine Veranstaltung, die die Preisträger selbst gestalten. Unter dem Titel „Die Welt schlief, nur wir waren wach“ trägt der Wuppertaler Slam Poet Jan Philipp Zymny vor, Ahmad Anousheh spielt Föte und der aus Afghanistan stammende Mohsen Mohammadi, der das Johannes-Rau-Gymnasium in Wuppertal besucht, singt. Jahn hofft, vor allem junge Leute anzusprechen, für die — ob Kinder von Einwanderern oder nicht — der Holocaust fern ist und doch wichtiges Thema sein sollte.